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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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anfangen, woher sie wäre, aus dem Ausland? Wegen des Kopftuchs, und er wäre im ersten Semester und ob sie auch in der Fleischmannstraße wohnte …
    »Du hast aber gesagt, du erzählst heute«, sagte eine Kinderstimme hinter ihr. »Hast du gesagt. Du hast überhaupt nichts erzählt, seit … seit hundert Jahren. Seit Mama verreist ist.«
    »Ich musste nachdenken«, sagte Abel.
    »Träumst du?«, fragte der Student. Anna sah ihn an. Es war ein hübscher Student, Gitta hätte er gefallen. Aber Anna wollte nicht mit ihm reden. Nicht jetzt. Sie wollte nicht, dass Abel ihre Stimme hörte. »Ich … ich bin ein bisschen krank«, flüsterte sie. »Ich … kann nicht so viel reden. Mein Hals, weißt du. Erzähl … erzähl du doch was.«
    »Was soll ich erzählen?«, fragte er. »Ich bin noch nicht lange hier, ich hatte gehofft, du kannst mir was erzählen, über die Stadt … ich bin aus München, die ZVS hat mich hierher verfrachtet, aber sobald ich woanders einen Platz kriege, bin ich weg hier und …«
    Anna aß den toten Hund, der tatsächlich aus Kartoffeln bestand, nickte ab und zu und versuchte, den Studenten auszublenden. Sie versuchte, auf einen anderen Kanal umzuschalten, auf den Abel-und-Micha-Kanal. Eine Weile war da etwas wie white noise in ihrem Kopf, das Rauschen zwischen den Kanälen, und dann, dann gelang es ihr. Sie hörte den Studenten nicht mehr. Sie hörte den Lärm im Essenssaal nicht mehr. Sie hörte Abel. Nur noch Abel.
    Dies war der Moment, in dem sich alles von innen nach außen kehrte. In dem die Geschichte begann, die auch Annas Geschichte werden sollte. Sie hatte natürlich schon vorher begonnen, mit der Puppe, mit den alten Kopfhörern, mit dem kleinen Mädchen auf dem trostlosen Schulhof. Mit dem Wunsch, zu begreifen, wer oder wie viele Personen Abel Tannatek war. Anna schloss die Augen für eine Sekunde und fiel aus der wirklichen Welt heraus. Sie fiel hinein in den Beginn eines Märchens. Denn der Abel, der hier in derMensa saß, nur zwanzig Zentimeter entfernt von Anna, zwischen orangefarbenen Plastiktabletts und schwirrenden Semestergesprächen, vor einem kleinen Mädchen mit dünnen blonden Zöpfen … dieser Abel war ein Märchenerzähler.
    Das Märchen, in dem Anna landete, war so hell und lichtdurchflutet wie der Moment, in dem er Micha in der Luft herumgeschleudert hatte. Doch sie hörte hinter den Worten eine uralte Dunkelheit lauern, die Dunkelheit aller Märchen, die Kehrseite.
    Erst später, viel später, erst zu spät würde Anna begreifen, dass dieses Märchen tödlich war.
    Sie hatten ihn nicht gesehen. Keiner von ihnen. Er verschwand in der Menge der Studenten, er war unsichtbar geworden, unsichtbar hinter seinem orangefarbenen Tablett mit dem weißen Mensateller und dem undefinierbaren Essen darauf.
    Er lächelte über seine eigene Unsichtbarkeit. Er lächelte über die beiden, die dort drüben so nahe beieinandersaßen und doch an verschiedenen Tischen, Rücken an Rücken. Sie waren zusammen hier und wussten es noch nicht. Wie jung sie waren! Er war einmal so jung gewesen wie sie. Vielleicht war das der Grund, weshalb er noch immer ab und zu in die Mensa ging, es war nicht wie damals, natürlich, es war eine andere Mensa und eine andere Stadt, und doch war es ein Besuch in seiner Erinnerung.
    Er betrachtete die beiden wie ein Bild, während er sein undefinierbares Essen aß. Nein, nicht die beiden. Die drei. Da war ein Kind bei Abel, ein kleines Mädchen. Hier also schlief er nicht, hier war er ein anderer – und Anna Leemann mit ihrem Kopftuch, mit dem sie glaubte, nicht erkannt zu werden, auch Anna war eine andere Anna. Sie waren alle nur Schauspieler, die in der Schule ihreRolle spielten. Die Rolle des Dealers. Die Rolle des braven Mädchens. Und er? Auch er spielte nur eine Rolle …
    Manche Rollen waren gefährlicher als andere.
    Anna hob den Kopf und sah zu ihm hinüber und er verbarg sein Gesicht hinter einer Zeitschrift wie ein Amateurdetektiv. Er würde noch ein Weilchen unsichtbar bleiben.

3
    Micha
    »Erzähl von der Insel«, sagte Micha. »Erzähl, wie sie aussieht.«
    »Aber das habe ich dir schon hundert Mal erzählt«, sagte Abel. »Du weißt genau, wie die Insel aussieht.«
    »Ich habe es vergessen. Die letzte Geschichte ist so lange her! Tausend Jahre! Bestimmt. Da war Mama noch da. Wo ist Mama jetzt?«
    »Ich weiß es nicht und das habe ich dir auch schon hundert Mal gesagt. Auf dem Zettel stand nur, dass sie plötzlich verreisen muss. Und dass

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