Maerchenerzaehler
emporgeschlagen war wie der Albtraum einer Flamme. In dem Licht sah die kleine Königin das Meer. Und das Meer war rot wie Blut.
Es bestand aus purpurnen Wogen, karminroten Gischtkämmen, spritzender Farbe – die hellroten Tropfen, die auf die Klippe gespritzt waren, glichen Mohnblumen. Sie waren schön, schön wie ein Frühlingstag auf einer sonnigen Wiese. Doch der Frühling war fern. Die kleine Königin wiegte zitternd Frau Margarete in ihren Armen. Und auf einmal begriff sie, dass es Winter geworden war.«
Anna hörte das Scharren eines Stuhls auf dem Boden. Sie blinzelte. Der Essenssaal war beinahe leer. Zwei Frauen in gestreiften Kitteln wischten die Tische ab und warfen den Trödlern missbilligende Blicke zu. Der Student saß nicht mehr an Annas Tisch. Wann war er gegangen? Hatte sie sich von ihm verabschiedet?
»Und dann?«, hörte sie Micha hinter sich fragen. »Was war dann?«
»Dann war es Zeit zu gehen«, antwortete Abel. »Du siehst doch, sie wollen schließen. Ist in deinem Bauch noch Platz für einen Kakao oder ein Eis?«
»Oh ja«, sagte Micha. »Ich fühle den Platz gleich hier, siehst du … es passen auch ein Eis und ein Kakao hinein …«
»Du musst dich für eins entscheiden«, meinte Abel, und Anna hörte ihn lächeln. »Also gehen wir runter in die Cafete, ja?«
»Klar gehen wir«, sagte Micha. »Es ist doch Freitag. Es muss jeden Freitag gleich sein: erst die Mensa, dann die Cafete.«
Anna beeilte sich, aufzustehen und den Saal vor den beiden zu verlassen. Sie stellte das orangefarbene Tablett mit dem beinahe unangetasteten Kartoffelhund auf das Fließband neben der Tür, wo es auf zwei Gummileisten in ein Loch in der Wand gesogen wurde. Die Gummileisten und die Tabletts hätten Gittas Mutter gefallen, dachte sie, sie waren ganz bestimmt steril abwaschbar.
Anna zog ihr Kopftuch enger, doch dann fiel ihr ein, dass nicht sie in nassen Kleidern auf einer Klippe saß, sondern jemand ganz anders, und zum x-ten Mal an diesem Tag kam sie sich ziemlich lächerlich vor.
Sie erreichte den Fuß der Treppe ungesehen und unbemerkt, Abel und Micha trödelten, und in der Mensa-Cafete war es brechend voll. Anna spürte direkt, wie sie in der Menge unsichtbar wurde, sielöste sich auf, wurde zu einem anonymen Teil dichter Studentenmasse, vertiefte sich in das Studium grellbunter Partyflyer auf der Fensterbank – und hörte Michas helle Stimme hinter sich. Sie folgte der Stimme zwischen die Glasauslagen mit Kuchen und belegten Brötchen, war der Stimme und ihrer Besitzerin plötzlich zu nah, versteckte sich in dem komplizierten Vorhaben, Kaffee aus einem Kaffeeautomaten zu befördern, ohne dass der Automat die ganze Stadt überschwemmte. Irgendwie passierte es, dass sie an der Kasse direkt hinter der rosa Daunenjacke stand. Micha stellte sich auf die Zehenspitzen, wischte eine leicht soßenverklebte Strähne aus ihrem Gesicht, da sich ihre Zöpfe in Auflösung befanden, und sagte: »Ich glaube, ich möchte einen Kakao. Oder haben Sie ein Vanilleeis mit einem Kakao zusammen?«
»Wie?«, fragte die Kittelfrau an der Kasse.
»Na ja, gibt es so was wie Vanilleeis plus Kakao und für billiger? Bei McDonald’s gibt es so was. Mit Kaffee und Hotdog.«
»Wir sind hier nicht bei McDonald’s«, sagte die Kittelfrau. »Und Hotdogs gibt’s sowieso nicht. Entscheide dich jetzt, was du willst, du bist nicht allein auf der Welt, da warten noch Leute, junge Dame.« Ihr Ton war mindestens so kalt wie Eis, schmeckte aber nicht nach Vanille. Er schmeckte nach Scheuerpulver und einer kittelgestreiften Lebensenttäuschung. Um den Mund der Frau lagen verbitterte Falten, in denen Anna las: Ihr alle. Ihr wisst gar nichts. Ihr verfresst und versauft hier das Geld eurer Eltern. Bildungsvolk. Pah! Mir schenkt keiner was. Aber es ist doch nicht unsere Schuld!, wollte Anna sagen. Wessen Schuld ist es? Erklären Sie es mir! Ich möchte begreifen, so vieles begreifen …
Die Kittelfrau stellte eine weiße Mensatasse mit blassem Kakao auf Michas Tablett. Offenbar hatte sie sich doch für den Kakao entschieden. Micha nickte, reckte sich nach den Strohhalmen auf der Theke seitlich der Kasse, Strohhalme, die sicher nicht für Kakao da waren: diese grasdünne, bunte Sorte, die es nur hier zu geben schien. Sie nahm zwei, einen grünen und einen blauen.
»Na, junge Dame, da reicht wohl einer«, fauchte die Kittelfrau, als wären es ihre persönlichen, höchst eigenen Strohhalme, die sie hüten musste wie ihren Augapfel, und
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