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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Der Kies hatte sich zu bösen kleinen Eisklumpen zusammengeschlossen, die dünnen Fahrradreifen schlingerten auf den Pfützen, der Wind blies aus Richtung Stadt, ihre Nase war beinahe erfroren – und tief in ihr sang es. Nie war der Himmel so hell gewesen, die Zweige der Bäume am Fluss so golden. Nie hatte das werdende Eis auf dem Ryck so geglänzt. Sie wusste nicht, ob das nur der Ehrgeiz in ihr war, etwas herauszufinden, was niemand wusste. Das Glück, es beinahe herausgefunden zu haben .
    Vor der Mensa herrschte ein Durcheinander an Menschen und Rädern, Gesprächen und Rufen, Wochenendplänen und Verabredungen. Einen Moment lang hatte Anna Angst, Abel in diesem Durcheinander nicht wiederzufinden. Doch dann sah sie einen rosa Fleck im Gewühl, der durch die gläserne Drehtür schlüpfte, und kurze Zeit später befand sie sich auf dem Weg die breite Treppe hinauf zur Essensausgabe. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, holte ihr Halstuch aus dem Rucksack, band es sich um den Kopf und kam sich völlig lächerlich vor. Was bin ich denn? Ein Stalker? Sie nahm sich oben ein orangefarbenes rechteckiges Plastiktablett vom Stapel und reihte sich in die Schlange der Studenten ein. Es war ein seltsamer Gedanke, dass sie bald zu ihnen gehören würde. Nach der Au-Pair-Zeit in England. Nicht dass sie zum Studieren hierherzurückkommen würde, die Welt war zu groß, um in der eigenen Stadt zu bleiben, sie wartete auf Anna, eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Abel und Micha standen bereits an der Kasse. Anna drängelte sich nach vorn, häufte irgendetwas Undefinierbares auf ihren Teller, das vielleicht aus Kartoffeln bestand, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit aber aus überfahrenem Hund, und beeilte sich, ebenfalls zur Kasse zu kommen.
    Sie sah, wie Abel eine Plastikkarte zurück in sein Portemonnaie steckte, weiß mit hellblauem Aufdruck. Alle Studenten hatten solche Plastikkarten.
    »Entschuldigung«, fragte sie das Mädchen hinter ihr, »brauche ich so eine Karte?«
    »Du kannst auch so bezahlen«, sagte das Mädchen. »Bist du neu? Die Karten gibt’s unten in der Cafete, du brauchst nur deinen Studentenausweis vorzuzeigen. Fünf Euro Pfand, und du kannst dann am Automaten Geld draufladen und …«
    »Moment«, sagte Anna. »Was ist, wenn ich keinen Ausweis habe?«
    Das Mädchen zuckte die Achseln. »Oh, da sind sie streng. Dann musst du den vollen Preis fürs Essen bezahlen. Finde besser deinen Ausweis wieder.«
    Anna nickte. Sie fragte sich, wo Abel seinen Ausweis gefunden hatte.
    Auch der volle Preis für den überfahrenen Hund war nicht besonders hoch. Und dann stand Anna mit ihrem Tablett verloren hinter der Kasse und sah sich nach der rosa Daunenjacke um.
    Sie war nicht die Einzige, die den Hals reckte und umherspähte, eine Menge Leute schien hier damit beschäftigt zu sein, eine Mengeanderer Leute zu suchen. Nirgendwo war ein rosa Fleck zu sehen, nirgendwo ein Kind mit dünnen blonden Zöpfen. Plötzlich ergriff eine unsinnige Panik Anna. Sie hatte sie verloren, sie würde sie nie wiederfinden, sie würde nie wieder mit Abel Tannatek reden, weil es dumm war, Stoff bei ihm zu kaufen, den sie später wegwarf, sie würde nach England gehen und nie herausfinden, warum er so war, wie er war, und wer dieser andere Abel war, der ein Kind in der Luft herumschleuderte, sie würde …
    »Im kleinen Saal ist bestimmt noch Platz«, sagte jemand neben ihr zu jemand anderem, und zwei Tabletts schoben sich an ihr vorbei, zur Tür hinaus. Anna folgte ihnen. Und dann sah sie, dass es noch einen Speisesaal gab, man musste durch den Flur gehen, wo rechts eine zweite Treppe hinunterführte. Und links, im zweiten Speisesaal, den eine große Glaswand vom Flur trennte, leuchtete ein rosa Fleck. Der Boden war nass von Winterstiefelspuren. Anna balancierte ihr Tablett vorsichtig durch das Gewühl – nicht dass sie Angst um den überfahrenen Hund hatte, der war ohnehin nicht mehr zu retten –, aber es wäre sicher auffällig, mitsamt dem Tablett mitten zwischen den Tischen auszurutschen und der Länge nach hinzufallen. Die rosa Jacke hing ganz hinten über einem Stuhl, und dort, in der Ecke, saßen Abel und Micha. Anna hatte Glück, Abel wandte ihr den Rücken zu. Sie setzte sich an den Tisch neben ihnen, ihrerseits mit dem Rücken zu Abel.
    »Was ist das denn?«, fragte ein Student neben ihr und sah sich den Auflauf auf ihrem Teller an.
    »Toter Hund«, antwortete Anna, und da lachte er und wollte ein Gespräch mit ihr

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