Schicksal des Blutes
San Francisco – Kalifornien – 1. Mai 2011
A
my Evans träumte.
Es musste ein Traum sein, denn zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit empfand sie keinerlei Schmerz. Die körperlichen Qualen schienen vorüber und auch ihre Seelenpein schwand, als sich ein zärtlicher Schleier aus Geborgenheit über sie senkte. Eine silbrig weiße Wolke hüllte sie behaglich ein. Sehnsucht erfüllte sie. War sie im Himmel? Starb sie?
Wenn dies der Tod war, wollte sie wahrhaftig tot sein.
Engelschwingen hoben sie an eine breite, warme Brust, unter der ein gütiges Herz pochte. Amy fühlte sich wie eine Feder, frei und leicht, getragen und beschützt von kräftigen Armen, die sie wie in Abrahams Schoß betteten. Vertrauen durchrieselte sie. Die wohlige Wärme ihres Körpers erhitzte sich zu einem heißblütigen Begehren, als zärtliche Finger ihre nackten Rundungen erkundeten und ohne Scheu ihre intimsten Stellen liebkosten. Die Intensität raubte ihr den Atem, den sie anscheinend nicht mehr benötigte. Der Himmel auf Erden.
Amy ließ die Augen geschlossen, gab sich den überirdischen Gefühlen hin, schwebte und genoss glücklich die Sicherheit der Liebe dieses göttlichen Mannes.
~ ~
Ny’lane Bavarro atmete tief durch, als die schwere Standuhr in Amys Penthouse Mitternacht schlug. Der erste Gong des alten Westminsterschlags ging in einem markerschütternden Donnergrollen unter, das gewaltig über San Francisco hinwegfegte, und totale Finsternis zurückließ. Timothy zündete eine Kerze an. Ein Blitz zuckte nieder, erhellte den gepeitschten Starkregen hinter den Panoramascheiben. Das verdammte Gebäude erzitterte wie bei einem Erdbeben. Nyl packte eine Säule aus weiß geädertem Naxos-Marmor, während sich Jonas, Cira und Samantha bei den Händen nahmen, um sich als Sternträger ihrer Aufgabe zu widmen. Es entsprach tatsächlich der Wahrheit – der gefallene Engel Nephilim betrat mit seiner rachegeschürten Allmacht die Erde. Das angekündigte und befürchtete Chaos brach aus.
Ein Stromstoß jagte wie ein Blitzeinschlag durch Nyls Kopf bis in die Fußsohlen. Gleichzeitig entwich ihm ein Entsetzensschrei. Die Fäuste auf die Brust gequetscht, die schmerzte, als risse ihm jemand das Herz hinaus, rannte er wie vom Teufel verfolgt los.
Er hatte sich täuschen lassen!
Nyl rammte die Schlafzimmertür aus den Angeln. Er verengte die Augen zu einem schmalen Schlitz, schickte all seine Energie in den Sehsinn und starrte einen zeitlupenartigen Moment auf Amy. Ihr langes Haar lockte sich wie ein Fächer um ihr selig lächelndes Gesicht. Das dunkle Kaffeebraun bildete einen beinahe schmerzlichen Kontrast zu ihrer blassen Haut und dem weißen Kopfkissen. Ihre wundersam herzförmigen und voluminösen Lippen wiesen eine gräuliche Färbung auf. Ihre Lider mit den langen, schwarzen Wimpern waren friedlich geschlossen. Sie zitterten nicht, weil Amy nicht mehr träumte, Fieber und Schüttelfrost vergangen waren. Amy schlief nicht, weil sie nicht mehr erschöpft war.
Sie war tot.
Ny’lane taumelte vor, ergriff einen Bettpfosten. Protestierend knirschte dieser unter seiner Kraft, doch Nyl lauschte nur nach ihrem Herzschlag, dessen Fehlen ihm trotz des Getöses der Naturgewalten sofort aufgefallen war.
„Ich habe mich geirrt …“ Der Dämon, der Amys Lebenskraft aussaugte, hatte ihren Körper nicht verlassen. Die Ausgeburt der Hölle hatte sich nur aus ihren Gedanken zurückgezogen – bis vor einigen Sekunden. Als Amy starb, schleuderte es die Dämonin hinaus. Nyl riss die Bettdecke fort, holte aus und schlug Amy auf den Brustkorb.
„Er bringt sie um!“, kreischte Cira plötzlich hinter ihm und packte ihn mit ihrer neu gewonnenen vampirischen Kraft.
Nyl wandte sich nicht um, stieß nur ein warnendes Knurren aus. „Sie ist bereits tot!“ Seine Aggressivität hätte ihn erschreckt, wenn er bei Sinnen gewesen wäre, doch das war er nicht. Er war außer sich vor Panik.
„Engel, lass ihn“, sagte Jonas und Ciras Hände lösten sich von seinen Schultern.
Nyl machte stoisch mit der Herzdruckmassage und der Beatmung weiter. Sein Körper brannte vor Qual, als hätte er den Alkohol in seinem Blut angezündet. Flüche hallten in seinem Schädel wider, doch der Druck auf ihr Herz blieb klar bemessen. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Gedanklich verfluchte er sich für seinen Fehler, gleichzeitig schrie er Amy an, sie müsse atmen.
Wie auf eine unsichtbare Mauer geprallt, hielt er inne. Er zog seine
Weitere Kostenlose Bücher