Maerchenerzaehler
sie dich lieb hat.«
»Dich nicht?«
»Die Insel«, sagte Abel, »besteht ganz aus Felsen. Oder soll ich sagen, bestand? Die Insel bestand ganz aus Felsen, es war eine winzige Insel, und sie lag weit, weit draußen im Meer. Auf der Insel lebte nur eine einzige Person, eine sehr kleine Person, und weil sie am liebsten auf den Klippen saß, ganz vorne, über der Brandung des Meeres – deshalb nannte man sie die kleine Klippenkönigin. Oder eigentlich nannte sie selbst sich so, da es ja niemand anderen gab.
Die Vögel hatten ihr erzählt, dass es andere Inseln gab. Sie hatten auch vom Festland berichtet. Das Festland, sagten die Vögel, ist eine unendlich große Insel, über die man wochenlang wandern kann, ohne auf die andere Seite zu gelangen.
Das konnte die kleine Königin sich nicht vorstellen. Um ihre eigene Insel herumzuwandern, dauerte nur drei Stunden. Dann kam man wieder dort an, wo man losgegangen war. So blieb das Festland für die kleine Königin ein ferner, unwirklicher Traum. Abends erzählte sie sich selbst Geschichten vom Festland: von Häusern mit tausend Zimmern und von Läden, in denen man alles bekommen konnte, was man wollte; man brauchte es nur aus den Regalen zu nehmen.
Aber eigentlich brauchte die Klippenkönigin keine tausend Zimmer und keine Läden voller Regale. Sie war völlig glücklich auf ihrer winzigen Insel. Das Schloss, in dem sie wohnte, besaß genau ein Zimmer, und darin stand nichts als ein Bett. Denn das Spielzimmer der kleinen Königin waren die Wiesen auf der Insel und ihr Badezimmer war das Meer.
Jeden Morgen band sie ihr blassblondes Haar zu zwei Zöpfen, zog ihre rosa Daunenjacke an und rannte hinaus in den Wind. In der Tasche der Daunenjacke wohnte Frau Margarete, ihre Puppe mit dem geblümten Kleid, der konnte sie alles erzählen. Und mitten auf der Insel graste in einem Garten aus Apfel- und Birnbäumen eine weiße Stute. Auf ihrem Rücken galoppierte die kleine Klippenkönigin quer über die Insel, schneller als der Sturm, und sie lachte laut, wenn die Mähne der Stute flatterte und ihr Schal davonflog. Der Schal der Stute natürlich. Die Klippenkönigin brauchte keinen Schal, sie hatte einen Kragen aus falschem Pelz an ihrer rosa Jacke, aber der Stute hatte sie einen Schal gestrickt. Das Stricken hatte sie in der Schule gelernt.«
»Auf der Insel wohnt doch gar keiner!«, rief Micha. »Hast du das vergessen? Wie soll es denn da eine Schule geben, in die ich gehe?«
»Natürlich gab es eine Schule«, sagte Abel. »Es gab dort genaueine Lehrerin, das war die kleine Klippenkönigin selbst, und eine Schuldirektorin, das war auch die Klippenkönigin, und eine einzige Schülerin, das war ebenfalls die Klippenkönigin. So hatte sie sich selbst also das Stricken beigebracht, und für den Schal der Stute – er war grün – hatte sie sich eine Eins gegeben. Und …«
»Das ist doch Unsinn!«, rief Micha und kicherte.
»Na, wer ist denn die Klippenkönigin, du oder ich?«, fragte Abel. »Ich kann doch nichts dafür, wenn du dir selber Noten gibst! Es war übrigens immer Sommer auf der Insel. Die kleine Königin brauchte nie zu frieren.
Wenn sie hungrig wurde, aß sie die Äpfel und Birnen von den Bäumen, oder sie holte ihr Schmetterlingsnetz und fing von den Klippen aus einen Fliegenden Fisch, den sie über dem Lagerfeuer briet. Sie besaß auch ein Weizenfeld, um Mehl zu machen und ab und zu einen Apfelkuchen für sich und Frau Margarete zu backen. Den Kuchen schmückte sie mit den Blumen der Insel – mit blauen Vergissmeinnicht, violetten Glockenblumen und gelben Löwenmäulchen.«
»Gab es auch diese ganz kleinen weißen Blumen auf der Insel?«, fragte Micha eifrig. »Die aus dem Wald? Wie hießen die? Buschwindmäuschen?«
»Nein«, sagte Abel. »Und nun muss endlich die Geschichte beginnen. Aber – Micha? Erinnerst du dich an all die anderen Geschichten von der kleinen Klippenkönigin? Die von der Kaiserin aus Schaum und vom Besuch des melancholischen Drachen? Vom versunkenen Ostwind und vom albernen Wirbelsturm?«
»Oh ja«, antwortete Micha. »Ich erinnere mich genau. Die Klippenkönigin hat am Ende immer alles geschafft, was geschafft werden musste, oder?«
»Ja«, sagte Abel. »Nur ist diese Geschichte anders. Ich weiß nicht, ob sie es diesmal schafft. Ich weiß nicht, was aus ihr wird. Diese Geschichte ist … gefährlich. Willst du sie trotzdem hören?«
»Natürlich«, sagte Micha. »Ich bin mutig. Das weißt du doch. Ich war sehr mutig mit
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