Maerchenerzaehler
dem Drachen. Er hat mich nicht gefressen, obwohl er das zuerst wollte, und ich habe alle seine Probleme gelöst, und er ist ganz fröhlich weggeflogen und …«
»Gut«, sagte Abel. »Wenn du sie hören willst, erzähle ich sie. Sie wird ein bisschen dauern.«
»Wie lange? So lange wie ein Kinofilm? So lange wie ein Buch?«
»Genau genommen … bis zum Mittwoch, dem dreizehnten März. Wenn alles gut geht.« Er räusperte sich, weil alle Märchenerzähler sich räuspern, wenn es spannend wird, und begann: »Eines Nachts wachte die kleine Königin in ihrem Bett auf und spürte, dass draußen etwas im Gange war. Etwas Großes und Bedeutendes. Sie lag ganz still in ihrem Bett – es war ein Himmelbett, was bedeutete, dass darüber ein Loch in der Decke war, durch das sie den Himmel sah. Wenn sie nachts erwachte, sah sie gewöhnlich die Sterne. Doch in dieser Nacht war der Himmel leer. Die Sterne waren geflohen. Da bekam sie Angst. Eine andere Art Angst als die vor dem melancholischen Drachen oder der Kaiserin aus Schaum. Und sie begriff mit einem Mal, dass all ihre bisherigen Abenteuer nichts gewesen waren als ein Spiel. Dies hier – was immer es war – war ernst.
Sie besaß nur zwei Kleider, eines für tags und eines für nachts, womit sie die Person mit den meisten Kleidern auf der ganzen Insel war. Nun zog sie das rote Tagkleid über das blaue Nachtkleid, denn wenn etwas Großes geschieht, ist es immer besser, man ist warm angezogen. Dann zog sie die rosa Daunenjacke an, in deren TascheFrau Margarete steckte, schlug den falschen Pelzkragen hoch und trat hinaus in die Nacht. Es war sehr still. Kein Vogel sang. Keine Grille zirpte. Kein Zweig regte sich. Selbst der Wind schwieg. Die kleine Königin wanderte zu ihrer Weide und dort stand die weiße Stute und blickte ihr entgegen. Sie wusste später nicht, wie sie die weiße Stute sehen konnte, wo es doch so dunkel war, aber sie sah sie. Wenn man jemanden lange kennt, kann man ihn auch im Dunkeln sehen. Die Stute legte den Kopf an den Hals der kleinen Königin, als suchte sie Trost.
›Fühlst du, dass es geschieht?‹, fragte sie. ›Spürst du die Angst der Bäume? Sie werden sterben. Heute Nacht. Und ich werde mit ihnen sterben. Ich werde dich nie wiedersehen.‹
›Aber warum?‹, rief die kleine Königin. ›Warum denn?‹
In diesem Moment lief ein Beben durch die Insel, und die kleine Königin hielt sich an der weißen Stute fest, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Ein zweites Beben folgte, ein Grollen drang aus der Tiefe, ein Poltern, ein Krachen …
›Gib gut auf dich acht‹, sagte die Stute. ›Wenn dir ein Mann mit einem blonden Schnauzbart begegnet, der deinen Namen trägt, dreh dich um und renne. Hast du mich verstanden?‹
Die kleine Königin schüttelte den Kopf. ›Wie kann ein Mann meinen Namen tragen?‹
Da ließ ein weiteres Beben den Boden erzittern und die ersten Bäume stürzten um.
›Das ist die Insel‹, sagte die Stute. ›Lauf, meine kleine Königin! Lauf zur höchsten Klippe. Und lauf schnell! Die Insel sinkt.‹
›Die Insel … sinkt?‹, rief die kleine Königin. ›Wie kann eine Insel versinken?‹
Die Stute neigte nur den Kopf, stumm.
›Ich … ich werde zur höchsten Klippe laufen‹, sagte die kleine Königin. ›Aber was ist mit dir? Kommst du nicht mit?‹
›Lauf, meine kleine Königin‹, sagte die Stute. ›Lauf schnell!‹
Und da lief die kleine Königin. Sie lief, so schnell ihre bloßen Füße sie trugen, sie lief wie der Wind, wie der Sturm, wie ein Orkan. Frau Margarete lugte furchtsam aus der Tasche der Daunenjacke. Als die kleine Königin die höchste Klippe erreichte, riss die Nacht auf, und von irgendwo spritzte ein Licht daraus empor. Das Licht riss sie von den Füßen, sie kletterte auf Händen und Knien weiter, immer höher auf die felsige, kahle Klippe hinauf, und als sie oben war, drehte sie sich um und sah, dass das Licht von der Insel kam. Es stieg aus der Mitte der Insel auf wie ein Feuerwerk und sie verbarg das Gesicht in ihren Armen. Um sie herum brachen die anderen Klippen ab, eine nach der anderen, sie hörte, wie die zerborstenen Stücke ins Meer fielen. Ihr Herz war wie gelähmt vor Furcht. Schließlich, nach einer Ewigkeit, ließen die Stöße des Bebens nach, und die kleine Königin wagte es endlich, den Kopf zu heben.
Die Insel war verschwunden. Nur noch ein paar Klippen ragten aus dem Meer. Am Himmel aber hing der Nachhall des Lichtes, das aus der Mitte der Insel
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