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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Pistole heraus. Sie hatte keine Ahnung von Pistolen. Von Waffen überhaupt. Sie stellte sich vor den Spiegel und versuchte, sie richtig zu halten. Es sah lächerlich aus. Sie legte sie in die Kiste zurück, obenauf.
    Und sie hätte die Blisterstreifen wieder darüber verteilt.
    Aber in diesem Moment öffnete sich die Badezimmertür.
    Die Haustür musste sich vorher geöffnet haben, da mussten Schritte gewesen sein, ihr Herzschlag hatte sie übertönt. Sie machte einen Schritt zurück.
    »Anna«, sagte Abel.
    Bertil war selten so schnell von einem Hochsitz geklettert. Das Fernglas schlug bei jeder Leitersprosse gegen seine Brust. In seinem Kopf gab es nur ein Wort, und das war ein Name: Anna. Anna, Anna, Anna. Er hatte es beinahe aufgegeben, ihr zu folgen. Er hatte sich einen Idioten geschimpft. Die Aktion im Schneesturm war dumm gewesen, dumm und gefährlich. Er hätte ihr niemals Angst machen dürfen. Die Durchsage war noch dümmer gewesen.
    Und plötzlich fragte er sich, warum er lebte.
    Wenn das, was er die ganze Zeit über geahnt hatte, stimmte, dann hatte Tannatek kein Problem damit, Leute zu erschießen. Er konnte es sich nicht vorstellen. Wie das war, jemanden zu erschießen. Er hatte es keinem von ihnen gesagt, aber wenn er dabei war, wie sein Vater ein Tier schoss, sah er jedes Mal weg. Er war ein Feigling, er wusste es. Er konnte nur auf Zielscheiben schießen. Hennes war anders, Hennes war immer perfekt, Hennes ging wirklich mit auf die Jagd, er hatte den Schein, er hatte keine rutschende Brille, er konnte jedes Mädchen haben, das er wollte … jedes bis auf Anna. Nicht dass Hennes Anna hätte haben wollen. Aber dass gerade einer wie Tannatek sie dann bekam, das war doch seltsam, nicht wahr? Er war ihr so lange gefolgt, ihm im Übrigen auch, er hatte so viel herausgefunden und doch nicht genug.
    Und beinahe – beinahe hätte er damit aufgehört. Nun war er froh, dass er es nicht getan hatte, dass er ihr auch hierher gefolgt war. Ihm wurde übel, als er neben der Grube kniete, die die Schweine gescharrt hatten. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen. Anna vermutlich auch nicht. Die Brille rutschte schon wieder. Er brauchte den Namen auf dem Holzkreuz nicht zu lesen, um zu wissen, wessen Leiche es war, er las ihn trotzdem. Dann wählte er die Nummer der Polizei. Aber wohin würde er sie schicken? Hierher?
    Wo war Anna? Nach Hause gefahren? Selbst zur Polizei? Er war ihr dieses eine Mal nicht gefolgt, hatte sie gehen lassen, um sich anzusehen, was sie gefunden hatte. Ein Fehler, Bertil, sagte er zu sich, ein unverzeihlicher Fehler.
    Also erst hierher. Sie würden ihm ohnehin nicht glauben, wenn sie dies hier nicht sahen.
    Sie konnte nichts sagen. Sie stand einfach da, mitten in dem winzigsten aller Bäder, reglos. Sie sah, wie der Blick seiner blauen Augen wanderte. Die Pupillen darin waren jetzt wieder normal groß, aber er sah übernächtigt aus. Er sah aus wie jemand, der am Ende ist. Er trug eine Alditüte in einer Hand. Und sein Blick, sein übernächtigter, eisblauer Blick, glitt von Anna hinüber zu der Kommode neben dem Waschbecken, zu der offenen Medikamentenkiste, zum glänzenden Schwarz der Waffe darin. Seine Bewegung war so schnell, dass sie sie kaum wahrnahm. Er hatte die Tüte fallen lassen. Er lehnte jetzt im Türrahmen, die Waffe in den Händen, er spielte mit ihr, wie Leute in Filmen es taten.
    Er sah die Waffe an. Er sah Anna an.
    »So«, sagte er.
    Sie bekam noch immer nichts heraus, keinen Laut. Schrei, Anna, dachte sie, schrei um dein verdammtes Leben! Unten lauscht Frau Ketow … Sie konnte nicht schreien.
    Er nickte, als hätte sie etwas gefragt.
    »Ja, Anna. Ja, ich kann schießen. Autodidakt, würde ich sagen. Der Kerl, den sie festgenommen haben, für den ersten Mord, erinnerst du dich? Der mit den Dingern gehandelt hat? Er hat sie mir verkauft, schon länger her, er hat es wohl vergessen. Das erklärt, dass er die gleiche noch einmal hatte, verstehst du?« Er hatte leise gesprochen, leise genug, damit Micha die Worte nicht verstand.
    Sie merkte, dass sie ebenfalls leise sprach. Wo hatte sie ihre Sprache wiedergefunden, und wenn sie sie wiedergefunden hatte, warum redete sie nicht lauter?
    »Ich habe Michelles Grab gefunden, Abel. Das Grab im Wald.«
    Er nickte. »Es taut.«
    »Die Wildschweine haben den Boden aufgegraben.«
    Warum erzählte sie ihm das? Um Zeit zu schinden? Zeit wofür?
    »Sie hat nie angerufen. Sie hat nie Geld abgehoben. Sie lag die ganze Zeit dort unter der

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