Maerchenerzaehler
gesagt, aber sie, sie konnte das nicht, sie lebte in einer anderen Welt, und er hatte mit allem recht gehabt. Geh weg, Prinzessin. Lass deinen Outlaw allein. Du wirst ihn nicht ändern … Geh weg, Anna, weit weg, und komm nie wieder. Das Märchen geht nicht gut aus. Er hatte sie gewarnt, er hatte sie die ganze Zeit gewarnt, genau wie damals in der Bootshalle, und sie hatte nicht auf ihn gehört. Da war sie wieder, die eine unbeantwortbare Frage: Warum hatte er sie gewarnt? Warum hatte er das Märchen erzählt? Hatte er sie trotz allem dochgeliebt? Aber was hieß trotz allem? Konnte denn ein Mörder nicht lieben? Sie war nicht sicher. Sie war sich über nichts hundertprozentig sicher. Auch nicht, dass er ein Mörder war, noch immer nicht.
Sie konnte niemandem etwas erzählen, ehe sie sich sicher war.
Du bist wahnsinnig, sagte eine kleine vernünftige Stimme in ihr. Du fährst da jetzt nicht hin, mein Kind. Du rufst jetzt die Polizei an und fährst nach Hause, so schnell du kannst. Himmel, das war ja wieder Gitta, die da in ihrem Kopf die Stimme der Vernunft spielte. Gerade Gitta!
Was hast du überhaupt vor? Willst du ihn fragen? Geradeheraus?
Nein. Nein, so dumm bin ich dann doch nicht, Gitta. Ich werde eine Ausrede finden, um das Bad zu benutzen. Ich werde in der Kiste auf dem Badezimmerschrank nachsehen.
Und dann?
Diese letzte Frage beantwortete Anna nicht und Gitta war ohnehin gar nicht da. Ihr Kopf war merkwürdig leicht, als sie in die Amundsenstraße einbog und vom Fahrrad stieg, ihre Füße berührten den Boden nicht, es war wie ein Traum. Kein schöner Traum. Die Haustür unten stand offen. Sie stieß eine der leeren Bierflaschen im Treppenhaus um, damit Frau Ketow es hörte und ihren Kopf aus der Tür streckte, damit jemand wusste, dass sie oben war. Aber was versprach sie sich von Frau Ketow? Als Anna oben klingelte, war ihr wieder eiskalt, die Temperatur wechselte rasant zwischen heiß und eisig, hatte sie am Ende wirklich Fieber?
Die Tür ging auf. Annas Herz klopfte so sehr, dass das Dröhnen ihren ganzen Schädel ausfüllte.
»Hallo, Anna!«, sagte Micha. »Abel ist nicht da.«
Anna atmete tief ein und wieder aus.
»Kann ich trotzdem reinkommen?«
»’türlich«, sagte Micha. »Ich lese gerade ein Buch, ich kann jetzt schon richtig ein Buch lesen, oder fast, es ist schwierig, aber ganz spannend, es geht um einen Hund. Hör mal, hat er dir das erzählt, dass sie im Märchen jetzt vor diesem Wasser stehen? Ich frage mich, was sie machen werden. Ob es einen Weg gibt, rüberzukommen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Anna und nahm Micha in die Arme und drückte sie einen Moment ganz fest an sich. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Hey, du zerquetschst mich!«, sagte Micha und schlüpfte aus ihrer Umarmung und lachte.
»Ich muss jetzt weiterlesen.«
Und damit verschwand sie in ihrem Zimmer, verschwand zur Geschichte von einem Hund, einem anderen Hund, der nicht silbergrau war. Und Anna dachte daran, was Bertil über diese Sorte silbergrauer Hunde gesagt hatte: Weimaraner. Es war ein Weimaraner. Er war zu scharf geworden. Er hat einen Jogger angefallen. Hat gedacht, er müsste seine Familie schützen … Das war es, was passiert war. Abel war wie dieser Hund. Wenn es wahr war.
»Micha?«, rief sie, während sie ihre Schuhe im Flur abstreifte. »Wo ist er denn?«
»Einkaufen!«, rief Micha zurück. »Er kommt sicher gleich wieder. Ich muss jetzt lesen!«
Anna behielt den Mantel an. Sie ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Die Pappkiste stand auf dem Badezimmerschrank wie immer. Es war natürlich kein Beweis, dachte sie, wenn nichts darin war. Er konnte die Waffe immer noch bei sich tragen. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Kiste zu kommen. Sie stellte sie auf die Kommode neben dem Waschbecken, eine Kommode, die Abel grün angestrichen und auf die Micha eine gelbe Blume gepinselt hatte. Sie öffnete den Deckel der Pappkiste.
Medikamentenpackungen. Lauter Medikamentenpackungen. Nicht die, die er verkaufte … ASS. Vomex. Paracetamol-Saft für Kinder. Rohypnol. Vielleicht doch etwas, das er verkaufte? Ein Fieberthermometer. Beipackzettel. Sie atmete auf. Sie schob ein paar Blisterstreifen auseinander, die Pappkiste war tief. Und unter dem silbernen Metall der Blisterstreifen lag etwas Schwarzes.
Eine Pistole.
Ihr Herzschlag war wieder zu laut geworden, sie spürte ihn jetzt in den Zehenspitzen und in den Fingern wie den Bass nachts in der Mensa. Sie nahm die
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