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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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letzten hohen Woge schwamm etwas heran. Ein Körper. Einen Moment lang sahen sie ihn deutlich, ehe das Meer ihn hinabzog in seine unergründlichen Tiefen.
    ›Der Diamantenhändler!‹, flüsterte das Rosenmädchen. ›Er ist tot!‹
    ›Wie der rote Jäger‹, sagte die kleine Königin. Sie schlang ihre Arme um das Rosenmädchen und weinte, und ihr diamantenes Herz stach in ihrer Brust. ›Müssen denn alle sterben?‹, schluchzte sie.
    Als das Wasser wieder ganz still war, trieb im Sonnenuntergang noch etwas heran. Noch ein Körper. Es war der Körper eines Seelöwen. Der Fragende und der Antwortende fischten ihn mit ihrenlangen Armen aus dem Meer. Sie legten ihn behutsam an Deck, wo er sich in den Körper des Hundes verwandelte, und die kleine Königin kniete sich neben ihn. Er atmete, doch er öffnete die Augen nicht.
    ›Mein armer Hund!‹, rief die kleine Königin. ›Was ist auf dem schwarzen Schiff geschehen?‹
    ›Lass ihn schlafen‹, sagte das Rosenmädchen. ›Er braucht Ruhe.‹ Sie trug den Hund hinunter in die Kajüte und bettete ihn auf die Eisbärfelle. An einer Stelle auf seinem linken Vorderlauf fehlte das Fell an zwei kreisrunden, glänzenden Stellen. Als hätte er sich dort verbrannt.«
    »Zwei?«, fragte Anna.
    Micha war auf dem Sofa neben ihnen eingeschlafen.
    Anna schob behutsam Abels linken Ärmel hoch. Wirklich, es gab jetzt eine zweite runde Narbe neben der ersten.
    »Was ist das?«, flüsterte sie. »Ist es, was ich denke?«
    Er nickte. »Zigaretten. Sie sind ziemlich heiß an der Spitze.« Er schob den Ärmel hinunter.
    »Aber wer … wer hat das getan?«
    »Ist das wichtig?« Sie sah ihn an und er seufzte. »Ich. Zufrieden?«
    »Nein«, sagte sie. »Warum? Warum tust du das?«
    »Schläft Micha schon lange?«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    »Ich beantworte keine Fragen«, sagte er und lächelte. »Ich bin kein Antwortender von der Insel der Antwortenden. Ich bin ein Märchenerzähler.«
    Sie stand auf und ging hinüber zu dem alten Plattenspieler undlegte eine der Platten auf, die sie in Lindas Cohen-Sammlung gefunden hatte. Sie stellte die Musik ganz leise, um Micha nicht zu wecken, kehrte zum Sofa zurück und lehnte sich an Abel.
    Trav’ling lady, stay awhile
    Until the night is over.
    I’m just a station on your way,
    I know I’m not your lover.
    Well, I lived with a child of snow
    When I was a soldier,
    And I fought every man for her
    Until the nights grew colder.
    She used to wear her hair like you
    Except when she was sleeping
    And then she’d weave it on a loom
    Of smoke and gold and breathing …
    »Was bedeutet das?«, flüsterte Anna. »Was bedeutet das alles?«
    Abel strich ihr wieder durchs Haar und seine Hand wanderte an ihrem Hals hinab und blieb dort liegen.
    »Es bedeutet alles«, wisperte er. »Und nichts.«
    And why are you so quiet now
    Standing there in the doorway?
    You chose your journey long before,
    You came upon this highway.
    Trav’ling lady, stay a while
    Until the night is over.
    I’m just a station on your way,
    I know I’m not your lover.
    »Ich habe darüber nachgedacht, nicht zurückzukommen«, sagte Abel plötzlich. »Unterzutauchen. Irgendwo.«
    Anna nickte. »Es war kein Ausflug. Du bist weggelaufen. Vor Marinke. Michelle hat nie angerufen. Natürlich nicht.«
    »Bist du sicher?«, fragte er.
    »Hat sie denn angerufen?«
    »Ich beantworte keine Fragen.«
    Sie nahm seine Hand in ihre und ließ sie tiefer gleiten, von ihrem Hals abwärts, unter ihr T-Shirt, es war eine erstaunlich zögernde Hand, und beinahe sträubte sie sich. Dann lag die Hand auf ihrer linken Brust, und sie fragte sich, ob sie es irgendwie schaffen konnte, den BH auszuziehen, ohne die gesamte Situation zu zerstören. In Filmen geschahen solche Dinge von selbst, die Leute hatten nie umständliche Kleider an, hatten niemals Haken oder Knöpfe oder Ösen, die ihnen in den Weg kamen.
    »Anna«, flüsterte Abel. »Ich bin mir nicht sicher …«
    »Reicht es nicht, wenn ich mir sicher bin?«
    »Aber Micha …«
    Er gab auf und ließ seine Hand, wo sie war. Und dann küsste er sie, und sie dachte, dass dies der dritte Kuss war, und fragte sich, ob es möglich war, alle Küsse im Leben zu zählen, oder ob es irgendwann zu viele wurden. Mit Abel schien man nicht Gefahr zu laufen, die Übersicht über die Anzahl zu verlieren. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund, ihre Lippen mussten von der Kälte aufgesprungen sein – oder bildete sie sich das ein? Sie schmeckte das

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