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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dann will er mich mitnehmen und alles. Gestern Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich das die ganze Zeit denken musste. Ich habe geträumt, dass er ein Netz hatte, wie für Schmetterlinge, nur war es für mich. Es war alles ein bisschen wie in unserem Märchen. Er wollte mich mit dem Netz fangen.«
    Abel kniete sich vor sie und sah ihr in die Augen.
    »Das wird er nicht tun«, sagte er leise. »Ich verspreche dir, dass er das nicht tun wird. Wir erzählen das Märchen so weiter, dass er verschwindet.«
    »Ich könnte euch mitnehmen«, sagte Anna zögernd. »Zu mir nach Hause. Du siehst ziemlich kalt aus. Wir haben einen Kamin, zum Aufwärmen. Und irgendwo finde ich sicherlich ein Mittagessen.«
    »Nein«, sagte Abel.
    »Meine Eltern sind nicht da«, meinte Anna. »Nicht heute. Sie kommen erst am Abend wieder. Ihr könntet …«
    »Nein«, sagte Abel noch einmal fest.
    »Einen Kamin«, sagte Micha und sah ihn an. »Das wäre furchtbargemütlich, meinst du nicht? Wenn draußen Schnee ist und drinnen ein Feuer, wie in dem Buch, das wir haben, und wir könnten bestimmt Kakao kochen …«
    »Nein«, sagte Abel.
    »Das ist ungerecht!«, rief Micha. »Gestern, da wolltest du mit dem Zug nach Rügen fahren, und ich bin mitgefahren, obwohl es ganz kalt war, und wir sind gewandert, und heute will ich mit Anna zu ihrem Kamin, und wir können ja wohl auch mal was machen, was ich will!«
    Sie stampfte mit dem Fuß auf und sah ihn an, und ihre Augen blitzten so kampfeslustig, dass Anna beinahe lachen musste.
    »Du kannst ja nach Hause gehen und warten, dass Herr Minke wieder vor der Tür steht«, fügte Micha hinzu und verschränkte die rosa Daunenarme. »Und ich gehe alleine mit Anna mit.«
    Abel legte die Hände vors Gesicht, atmete tief durch und sah Anna an. Das Dunkle, Beunruhigende in seinen Augen war ein wenig weiter weggerückt, als hätte er es mit aller Gewalt fortgedrängt.
    »Gut«, sagte er. »Gut. Von mir aus.«
    Anna blickte sich nicht um, als sie den Schulhof zu dritt verließen. Vermutlich sahen ein paar Leute ihnen hinterher. Bertil zum Beispiel. Sie sah vor sich, wie er mit dem Hund seiner Familie am leeren Strand spazieren gehen würde, die rutschende Brille alle paar Schritte hochschiebend, allein, so wie am Tag zuvor und alle Tage, in der Eiseskälte, im Wind, am gefrorenen Meer.
    »Du hast recht«, sagte Abel im Flur. »Die Luft ist blau. Ich hätte nicht gedacht, dass es stimmt.« Er lächelte.
    Er hatte auf dem ganzen Weg nichts gesagt, aber jetzt lächelte er.
    »Ja«, sagte Anna, »gestern wäre ich beinahe darin ertrunken.«
    Micha betrachtete die Jackenhaken im Flur, lange, kleine hölzerne Tierköpfe aus irgendeinem Reiseland, Anna hatte vergessen, aus welchem. Schließlich fand sie etwas, das ein Hund sein konnte, fuhr mit dem Zeigefinger darüber und hängte ihre rosa Jacke an den Haken daneben. »Wolltest du nicht den Hund?«, fragte Anna.
    »Wenn ich die Jacke über ihn hänge, kann er nichts mehr sehen«, erklärte Micha ernst. »Und das muss er doch, oder, wenn die Geschichte jetzt weitergeht. Er ist doch auf das schwarze Schiff gesprungen.«
    »Hast du auf eurem Ausflug nicht weitererzählt?«, fragte Anna.
    Abel schüttelte den Kopf.
    »Aber wir haben einen Schneemann gebaut«, sagte Micha. »Oh, ist das euer Wohnzimmer? Das ist aber schön.«
    »Hm«, sagte Anna. Sie sah zu, wie Micha die Socken auszog und mit bloßen Füßen über den türkischen Teppich ging, immer den Mustern nach, kreuz und quer, durch ein endloses Labyrinth. Dann gab sie das Spiel auf und lief zur Terrassentür, um in den kleinen Garten hinauszusehen.
    »Da sind lauter Rotkehlchen!«, rief sie. »Und zwei echte Rosenblüten! Wie auf dieser Insel in unserer Geschichte, aber da waren keine Rotkehlchen. Die Rotkehlchen sind gekommen, um sich die Rosen anzugucken, oder? Oh, Abel, sie sind so hübsch!«
    Anna sah Abel an. Er lächelte noch immer.
    »Es ist sehr anders … als bei euch«, sagte sie. »Ist das schlimm?«
    Abel griff nach ihrer Hand.
    »Danke«, sagte er. »Für Geschichte. Und alles. Du hast mich gerettet. Ich hatte … ich wusste nichts mehr. Ich habe mich erinnert, als ich deinen Zettel las.«
    Er griff in die Tasche und holte den Zehneuroschein heraus, den sie von oben bis unten mit ihrer Schrift gefüllt hatte.
    »Bist du wahnsinnig?«, flüsterte Anna erschrocken. »Du hast das Ding aufbewahrt?«
    Er zuckte die Schultern. »Ich wollte ihn vernichten, aber ich konnte nicht. Ich denke, ich werde den

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