Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
ist nicht die Zeit für Koketterien, sagte sein Ton.
    »Ja«, antwortete Anna. »Euer Sozialarbeiter ist tot. Ein Wolf hat ihn totgebissen und ihn unter dem Strandsand von Eldena verscharrt.«
    »Nein«, sagte Abel gequält. »Nein, das hat er nicht. Der Wolf war nicht dort. Sie waren hier, Anna. Die Polizei. Sie … sie haben alle Leute abgeklappert, deren Fälle Marinke auf seinem Schreibtisch hatte. Es scheint eine Menge Leute zu geben, die nicht glücklich darüber waren, dass er sich eingemischt hat … Donnerstag. Es sieht aus, als wäre er schon Donnerstag gestorben, aber sicher sind sie sich nicht, wegen der Kälte.«
    »Du hast ein Alibi«, sagte Anna. »Für Donnerstag. Du warst auf Rügen.«
    »Ein Alibi, ja«, meinte Abel. »Ein wunderschönes. Ein sechsjähriges Mädchen. Sie werden zurückkommen. Sie brauchen einen Schuldigen. Und ich habe eine Verbindung zu Rainer und zu Marinke. Alles passt zusammen.«
    »Aber du warst es nicht.«
    »Glaubst du, dass ich es war?«
    Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Aber die Busfahrer, Abel? Seid ihr auf Rügen nicht Bus gefahren? Und der Schaffner im Zug? Die sind doch alle älter als sechs.«
    »Das will ich hoffen.« Er lachte.
    »Kannst du nicht versuchen, an einen von denen heranzukommen?«
    »Ja«, sagte er. »Vielleicht. Vielleicht ist es möglich. Eine Menge Telefoniererei. Morgen. Morgen ist Montag.«
    Und jetzt legt er auf, dachte Anna, und ich sitze wieder da mit meinen Büchern und meinem Radio und der leicht variablen Nachricht von Marinkes Tod und mit mir selbst.
    »Eigentlich habe ich angerufen, weil …«, sagte Abel und stockte. Anna hörte im Hintergrund Micha etwas sagen, ungeduldig, es klang, als wollte sie das Telefon haben. »Weil wir dachten, wir könnten mal wieder im Café draußen einen Kakao trinken«, sagte Abel, »und weil wir fragen wollten, ob du Zeit hast.«
    Nein, dachte Anna. Nein, ich habe keine Zeit. Ich habe ein Abitur vor mir, und ein Gespräch mit Linda hinter mir, in dem sie mich zu Recht gefragt hat, ob es schlau ist, eine Beziehung zu führen, in der der eine nur einen Mucks machen muss und der andere springt.
    »Gib mir mal!«, verlangte Micha, und dann, in atemlosem Tempo, in Annas Ohr: »Anna, hör mal, ich habe eine Idee gehabt, die geht so: Du musst die Querflöte mitbringen, weil Abel hat mir die Geschichte von gestern zu Ende erzählt, von wo ich eingeschlafen bin, und den ganzen Tag haben wir versucht, den Seelöwen aufzuwecken, nachdem die beiden Polizisten weg waren, aber der liegt an Deck und rührt sich nicht. Er atmet bloß, hat Abel gesagt, und wer weiß, vielleicht stirbt er, davor habe ich Angst, und da dachte ich, wenn du Querflöte spielst, dann wacht er auf, das könnte doch gehen, oder meinst du nicht? In einem Märchen könnte das doch so sein. Kommst du und spielst für unser Märchen? Und wir könnten zum Abendessen zusammen Spaghetti kochen und …«
    »Eins nach dem anderen«, sagte Anna und lächelte. »Ja. Ja, ich komme.«
    »Schluss mit Lernen für heute?«, fragte Linda, die in der Küche in einer blauen Schürze Zwiebeln schälte. Anna nickte und umarmte sie. »Es wird vielleicht spät«, sagte sie. »Wenn ich mir etwas wünschen kann, wünsche ich mir, dass es spät wird.«
    Linda wischte sich mit dem Ärmel eine Zwiebelträne aus dem Auge. »Dann soll es spät werden.«
    »Warte«, sagte Magnus, sie war schon halb in der Tür. »Hier.Wenn du zum Abendessen dort bist … man sollte etwas mitbringen, wenn man zum Abendessen irgendwo ist.«
    Er hielt eine Flasche Rotwein in der ausgestreckten Hand, eine Flasche Jahrgangswein, halb auf dem Weg zur wundersamen Wandlung in Salatessig, jedoch noch nicht ganz dort angekommen, wertvoll. Anna schüttelte den Kopf. Magnus steckte die Flasche in ihren Rucksack und nickte.
    »Sprich mit ihm«, sagte er. »Vielleicht ist es leichter, wenn man eine Flasche guten Wein hat. Sprich mit ihm über mein Angebot. Versuch es.«
    Da umarmte Anna auch ihren Vater, weil er glaubte, eine Flasche Jahrgangswein könnte die Dinge so einfach klären, aber vielleicht glaubte er das gar nicht. Sie stieg auf ihr Rad.
    Aus irgendeinem Grund hatte sie gedacht, alles würde so sein wie beim ersten Mal: Abel und Micha würden ganz hinten an einem Tisch sitzen, im gläsernen Bug des Utkieks, ein Stuhl wäre frei, und sie würde darauf zugehen, ein unbestimmtes helles Glücksgefühl im Bauch. Doch natürlich ist nichts je so wie beim ersten Mal. Das Café war voll, sie

Weitere Kostenlose Bücher