Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
einen Schnaps. Aber jetzt erzählst du.«
    »Ja«, sagte Anna.
    Sie erzählte bis weit in die Nacht. Sie war eine Verräterin. Sie wusste, dass sie eine Verräterin war. Es ging Magnus und Linda nichts an, wie Abel und Micha lebten. Doch plötzlich war es, als bräche ein Damm, ein Damm, hinter dem noch mehr Tränen lagen, eine Flut von Tränen, eine Flut von gestotterten, ertränkten Worten und halben Beschreibungen.
    Linda machte Butterbrote, um den Tränen Halt zu geben. Magnus verwarf den Schnaps, den keiner mochte, und öffnete eine Flasche Wein.
    Und am Ende sagte er: »Anna.«
    »Ja?«, sagte Anna.
    »Was sollen wir tun?« Er sah sie an, ernst, es war eine wichtige Frage. »Sag uns, was wir tun sollen. Um zu helfen. Ich bin ein kritischer Mensch, vernunftorientiert, ich weiß nicht, ob ich dies alles gut finde, aber in der Liebe … du findest es vielleicht dumm, dass ich das sage … in der Liebe gibt es keine Kritik. In der Liebe gibt es keine Vernunft. Ich würde dir Geld geben, wenn du welches bräuchtest. Ich kann mit Ämtern reden. Sag mir, was wir tun sollen.«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Anna. »Wenn ich das wüsste, wäre alles einfach. Er nimmt kein Geld an. Er will nicht, dass man sich einmischt. An manchen Tagen kennt er mich nicht mal. Und nach heute … ich …«
    »Fang nicht wieder an zu weinen«, bat Linda leise und streichelte ihren Rücken. »Es wird alles gut.«
    Am Samstag fanden sie in Eldena die Leiche eines Mannes unter dem verschneiten Sand. In der Lederjacke des Toten steckte ein Portemonnaie und darin ein Personalausweis mit dem Namen Sören Marinke. Er war vierundvierzig Jahre alt gewesen. Sein Wollpullover und das Lammfellfutter der Jacke waren steif von gefrorenem Blut. Genickschuss, sagte der Radiosprecher.

12
    Drei Tage Sonnenschein
    »Anna?«
    Sie blinzelte. Das Licht, das durchs Fenster fiel, brach sich in der Querflöte auf dem Notenständer und fiel auf den Boden wie in Splittern. Die altmodische kleine Uhr auf der Ecke des Regals zeigte zehn vor vier. Sie hatte das Handy halb im Schlaf ans Ohr gehalten, sie musste über ihren Büchern eingenickt sein. Das Radio sprach leise vor sich hin. Wenn man die halbe Stunde abzog, die sie eventuell mit dem Kopf auf dem Schreibtisch geschlafen hatte, und davon ausging, dass sie um sieben Uhr aufgestanden war, dann hatte sie die Meldung von Sören Marinkes Tod jetzt acht Mal in den Lokalnachrichten gehört. Die Nachricht war seitdem detaillierter geworden, jedoch nicht sehr. Ein Spaziergänger hatte Marinke in den frühen Morgenstunden gefunden, oder besser gesagt, sein Hund, und Anna hatte sich sofort unwillkürlich gefragt, welche Farbe dieser Hund gehabt hatte: War es ein silbergrauer Hund gewesen, einer mit goldenen Augen? Natürlich nicht … Später hatten sie gesagt, Marinke hätte schon eine Weile dort unter Schnee und Sand begraben gelegen, einen Tag vielleicht. Der Körper war völlig gefroren, eine merkwürdige Vorstellung, und offenbar war es unmöglich, völlig zu gefrieren, wenn man nur ein paar Stunden dort draußen lag.
    »Anna?«
    Acht Mal hatte sie nachgerechnet, acht Mal hatte sie die Luft angehalten und acht Mal zögernd aufgeatmet: Denn sie war acht Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass Abel nichts mit Marinkes Tod zu tun haben konnte. Sein Alibi für den ganzen gestrigen Tag war sie selbst. Und am Tag davor, am Donnerstag, war er mit Micha auf Rügen gewesen. Wenn es stimmte, dass sie dort gewesen waren. Wenn …
    »Anna, bist du da?«
    »Ja, ja, ich glaube, ich bin hier«, sagte sie, aber ihre Stimme hörte sich tatsächlich an, als wäre sie anderswo. »Ich war … in Gedanken … ich muss über meinen Büchern eingeschlafen sein. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, einen sinnlosen Lernplan auszuarbeiten …«
    Nein, dachte sie, nein, das ist nicht wahr. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, dich nicht anzurufen. Denn natürlich war er es. Abel.
    »Anna«, sagte er, zum vierten Mal, als hätte er jetzt, da sie geantwortet hatte, eigentlich nichts mehr zu sagen, nichts als ihren Namen. Als hätte er nur sichergehen wollen, dass sie existierte. Sie stand auf und trat mit dem Handy ans Fenster, ihren Namen im Ohr wie einen Spiegel.
    »Abel«, sagte sie. »Dies ist ein roter Tag in meinem Kalender.«
    Er schwieg ein Fragezeichen durch die Leitung. »Du rufst mich an«, sagte sie. »Gewöhnlich bin ich es, die dir nachläuft.«
    »Hast du Radio gehört?«, fragte Abel, ohne darauf einzugehen. Dies

Weitere Kostenlose Bücher