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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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lerne«, antwortete Anna und blieb in der Tür stehen, ohne Gitta hereinzulassen. »Was soll los sein?«
    »Erzähl mir nichts«, sagte Gitta. »Irgendetwas ist doch passiert. Zwischen Abel und dir. Ihr redet nicht mehr. Denkst du, alle anderen sind blind? Wir machen uns Sorgen.«
    »Wer ist wir ?«, fragte Anna.
    Gitta wischte die Frage mit einer Handbewegung weg und kramte ihre Zigaretten hervor. »Wenn du mich schon nicht hereinlässt, musst du damit leben, dass der Rauch durch die offene Haustür hereinzieht«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Aber so schnell wirst du mich nicht los. Es ist schiefgegangen, oder? Mit Abel? Spektakulär schiefgegangen.«
    »Und wenn?«, fragte Anna.
    Gitta blies einen Rauchkringel in die Luft. »Was weißt du über ihn?«
    Anna kniff die Augen zusammen. »Wie meinst du das – was weiß ich über ihn?«
    »Das meine ich so, wie ich es sage. Was weißt du über Abel Tannatek?«
    »Vielleicht«, sagte Anna, »ist die Frage eher: Was weißt du über Abel Tannatek? Gibt es etwas, das du mir mitteilen willst? Bist du deshalb gekommen?«
    Gitta rauchte einen Moment schweigend.
    »Nein«, sagte sie schließlich. Und dann: »Ich denke manchmal an das Absperrband am Strand. Es taucht einfach so in meinen Gedanken auf …«
    »Ach was«, sagte Anna, plötzlich defensiv, »und weißt du, wer manchmal einfach so in meinen Gedanken auftaucht? Hennes von Biederitz zum Beispiel. Und Bertil Hagemann. Der eine gibt damit an, dass er schießen kann, und der andere versucht, nicht darüber zu reden. Söhne aus besserem Hause … Bertil war an den beiden Tagen vor Marinkes Tod am Strand draußen. Er hat es selbst gesagt. Und wo Hennes war, weißt du wahrscheinlich besser als ich. Oder vielleicht nicht?«
    Gitta starrte sie an, perplex. »Was haben die beiden mit der Sache zu tun?«
    »Das«, sagte Anna, »frage ich mich auch.« Und dann schloss sie die Tür.
    Am Mittwoch lag ein dritter weißer Umschlag im Flur. Als sie ihn anfasste, glühte er nicht. Sie würde ihn zerreißen wie die beiden vorigen. Sie würde … sie öffnete den Umschlag. Das Papier darin war eng beschrieben mit kleinen, gehetzten Buchstaben. Da war ihr Name. Anna. Anna, liest Du dies? Ich werde nicht aufhören, Dir zu schreiben.
    Ich habe nichts, nur die Worte. Ich bin der Märchenerzähler.
    Ich möchte Dir etwas erklären. Aber ich kann es nicht. Später, später vielleicht.
    Die Worte, die ich dazu finden muss, sind scharfkantig und verletzend, schlimmer als Rosendornen. Es gibt einen Grund für das, was geschehen ist. Es kann nicht verziehen werden und ich bitte Dich nicht darum. Wir haben uns verloren, wir werden uns nicht wiederfinden. Rosenmädchen, das Meer ist kalt und …
    Sie steckte den Brief zurück in den Umschlag und zerriss beides, in noch winzigere Stücke als die Umschläge zuvor. Der eisige Wind nahm ihr die Stücke aus den Fingern und trug sie mit sich davon, hoch hinauf in den Himmel, als würde es in umgekehrter Richtung schneien. In ihren Augen brannten Tränen. Wir werden uns nicht wiederfinden. Nein, dachte sie, das werden wir nicht. Nie mehr.
    Ich kann die Hand nicht nach dir ausstrecken. Was geschehen ist, kann nicht verziehen werden.
    An diesem Tag wurde die Situation in der Schule noch unmöglicher. Anna zwang sich, zum Deutschkurs zu gehen. Abel schien sich ebenfalls gezwungen zu haben. Er war sogar pünktlich. Er saß schon da, als sie hereinkam. Wer war damals auf die gloriose Idee gekommen, die Tische in U-Form zu stellen? Sie saßen sich gegenüber und sahen sich nicht an, sie sahen überall hin, nur nicht zueinander. Zwischen ihnen lagen drei Meter aus Taschenlampensplittern, fortrennenden Schritten, Schmerz, Blut, einer Hand vor jemandes Mund, dem Gewicht eines Körpers, dem Atem eines Tieres. Zwischen ihnen lagen zwei Tote. Einmal sah sie doch zu ihm hinüber. Er hatte den Pullover ausgezogen, er saß im T-Shirt da, und sie sah die beiden runden Narben auf seinem linken Oberarm. Es waren nicht mehr nur zwei. Da war eine dritte, größere, lang gezogene, ein breiter Strich. Sie sah weg und sah wieder hin. Der Strich war kein Strich, es war eine Aneinanderreihung von runden Flecken wie die beiden ersten, eine Spur glühender Zigarettenspitzen. Sie versuchte zu zählen, doch Abel wandte den Kopf, und sie senkte den Blick auf ihren Tisch.
    Der Schmerz, dachte sie. Der Schmerz ist der gleiche wie meiner, nur an anderer Stelle.
    Sie wartete nach der unerträglichen Doppelstunde, bis alle

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