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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Strand entlang, den Wind im Rücken, stieg über die Eisschollen, die das Meer hier zu seltsamen Kunstwerken übereinandergetürmt hatte, die Hände tief in den Taschen ihres Mantels, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Als wäre sie er, dachte sie, alles, was sie brauchte, waren Walkmanstöpsel, voll mit weißemRauschen. Aber nein, nein, sie brauchte sie nicht, das weiße Rauschen lieferte der Wind, sie befand sich mitten darin.
    Die Küstenlinie bog sich nach rechts, von der Bucht weg, dem offenen Meer zu, und sie folgte ihr, bis der Strand zu schmal war und sie durch die Bäume hinaufkletterte, wo ein Weg durch den Kiefernwald zurückführte. Aber sie wollte nicht zurückgehen, noch nicht. Sie fand eine Bank zwischen den Bäumen, eine kalte, halb verschneite Bank, auf die sie sich setzte, um über das Eis zu sehen.
    Sie war gekommen, um nachzudenken, aber ihr Kopf fühlte sich mit einem Mal leer an.
    Als sie die Augen schloss, wurde es rings um sie Sommer. Der Schnee war lange fort, die dünne Linie des Strandes lag goldgelb im Sonnenlicht unter ihr, die Kiefern hatten neue, frische grüne Nadeln, das Strandgras wiegte sich im Wind. Und dort, dort unten in einer der verborgenen Nischen, baute jemand eine Sandburg mit Türmen voller Muscheln und Seetang, mit bunten Fahnen aus Papier, mit Kiefernzapfen als Bewohner – es war ein kleines Mädchen mit blonden, salzwassernassen Zöpfen in einer rosa Badehose und einem viel zu großen dunkelblauen Strickpullover, dessen Ärmel sie mehrere Male aufgekrempelt hatte. Anna hörte sie lachen, es mussten noch andere Personen dort unten sein, die sie von hier aus nicht sah, da war die Stimme einer Frau … Michelle, dachte sie, Michelle ist auch hier, sie ist zurückgekommen, alles ist in Ordnung, dies ist der nächste Sommer und auf irgendeine Weise ist alles in Ordnung gekommen. Es gab noch eine andere, letzte Erklärung für alles: Weder Abel noch Michelle hatten etwas mit den Morden zu tun, denn sonst wären sie nicht hier, und Abel hat Micha immer nur als eine kleine Schwester geliebt oder vielleicht wie ein Vater, nichtmehr. Und ich bin auch dort unten, ich bin mit ihnen zusammen dort, habe ich nicht eben meine eigene Stimme gehört? Sie öffnete die Augen und die Vision verschwand. Der Strand lag still unter dem Schnee.
    Aber all das, dachte sie, diese Sommerszene, würde ja bedeuten, dass ich ihm verziehen hätte. Dass ich vergessen hätte, was in der Bootshalle geschehen ist. Die Hand. Den Schmerz. Die weglaufenden Schritte.
    Weißt du, was man mit Männern machen sollte, die so etwas tun?, fragte Gitta.
    Am schwierigsten ist es immer, sich selbst zu vergeben, sagte der Knaake.
    Du konntest nicht wissen, dass er so austickt …, flüsterte Gitta.
    Ich weiß nicht, ob es vergeben werden kann. Vielleicht nicht …, sagte der Knaake.
    Doch da waren noch die Worte einer dritten Stimme, Abels Stimme: Es kann nicht verziehen werden und ich bitte dich nicht darum. Rosenmädchen, das Meer ist kalt.
    Und plötzlich merkte sie, dass die Temperatur fiel. Sie fiel rasant. Es taute nicht mehr, der Wind war jetzt eisig, er trieb neue Schneeflocken heran, vereinzelt noch, aber am Himmel rückte eine weiße Wand näher heran. Einen Moment spürte sie noch die Sonnenwärme ihres Tagtraums auf der Haut, dann merkte sie, dass sie überhaupt nichts mehr spürte. Die Kälte machte die Haut auf ihren Wangen taub, völlig gefühllos, und ihre Finger in den Handschuhen schienen jemand anderem zu gehören. Wie lange saß sie schon hier? Wie lange hatte sie vom Sommer geträumt? Sie hatte gedacht, es wären Sekunden gewesen, doch plötzlich war sie sich nicht mehr sicher. Es dämmerte bereits. Sie stand auf, und beinahe gelang esihr nicht, sie war steif gefroren. Sie musste zurück, zurück zu ihrem Fahrrad, zurück nach Hause, in die Wärme.
    In dem Moment, als sie den Weg betrat, der durch die Kiefern führte, begann der Schneesturm. Es war natürlich kein wirklicher Schneesturm, in Deutschland gibt es keine wirklichen Schneestürme, aber dafür fühlte er sich verdammt echt an. Der Wind kam jetzt von vorne, er peitschte Anna seinen Schnee ins Gesicht, und sie duckte sich unter ihm, sie hörte die Kiefern ächzen, und irgendwo brach ein Stamm mit einem lauten Krachen. Sie duckte sich noch tiefer. Sie kam nicht voran. Der Sturm füllte die Schneise des Weges mit Schnee auf wie eine Rinne; in den letzten Wochen war es kontinuierlich kalt gewesen, aber es hatte nie wirklich viel Schnee

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