Märchensommer (German Edition)
Moment ab, bevor ich den Rest des Sweaters in meinen Rucksack schob. Irgendwie hatte sie wohl mein Herz pochen gehört, denn genau in diesem Moment drehte sich das Luder um.
Eine unerträglich lange Sekunde starrte sie mich missbilligend an, dann senkte sich ihr Blick und blieb an meinem Rucksack hängen. „Was zum Teufel—!“
Ich blickte ebenfalls nach unten. Ach du Scheiße! Ein Ärmel hing noch raus.
Die Lady zog eine Trillerpfeife, die sie an einer Kette um ihren Hals trug, unter dem Shirt hervor und gleich darauf plusterten sich ihre Wangen auf wie zwei überreife Tomaten an einer Rispe, als sie das ganze Viertel in Alarmbereitschaft versetzte.
„Los! Los! Los!“ Ich stieß Debbie hart in den Rücken, als ich vom Kleiderstand flüchtete.
„Diebe! Haltet sie!“, schallte ihre schrille Stimme hinter uns und ein weiterer ohrenbetäubender Pfiff folgte. Die Leute drehten sich in unsere Richtung. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie zwei uniformierte Männer von einem kleinen Wachstand ins Freie traten und die Menge nach uns absuchten. Mein Körper schüttete eine Überdosis Adrenalin aus. Augenblicklich verkrampften sich all meine Muskeln und ich fühlte mich wie ein überspanntes Gummiband.
Debbie zog an meinem Rucksack, woraufhin ich beinahe stolperte. „Hier entlang!“, rief sie und zerrte mich hinter einen Stand mit vergilbten Büchern und altem Silberbesteck. Vor uns lagen weitere Stände. Die Leute warfen uns grimmige Blicke zu, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.
„Jona!“ Debbie rang nach Atem. „Wir müssen uns aufteilen. Sie werden uns nicht beide verfolgen. Du hältst dich links und ich laufe weiter geradeaus.“
Ich blickte kurz zur Seite. Eine verdammte Sackgasse. „Du willst, dass ich Köder für die Cops spiele? Spinnst du?! Sie werden mich schnappen.“
„Du bist noch nicht achtzehn. Sie können dir nichts tun.“ Sie packte mich grob am Oberarm und schob mich weiter, während sie nach den Polizisten Ausschau hielt. „Außerdem wird dir die Heimleiterin eh wieder den Arsch retten. Macht sie doch jedes Mal!“
„Sie hat gedroht, mich im Gefängnis verrotten zu lassen, falls ich je wieder etwas stehle!“
„Sei nicht so ein Weichei!“ Debbie rammte mich mit der Schulter und drückte mich dabei zur Seite—in die Gasse ohne Ausweg.
Mir stockte der Atem. Als ich mich zu ihr umdrehte, blieb mir der Mund offen stehen. Ihr verschlagenes Grinsen war das Letzte, was ich von ihr sah, bevor sie in die Menge tauchte.
„Die Gören sind in diese Richtung gelaufen!“, tönte plötzlich eine raue Stimme hinter mir und holte mich aus meiner Fassungslosigkeit zurück.
Ich blickte über meine Schulter. Verdammt! Sie waren mir dicht auf den Fersen. Ihre blauen Polizeikappen hoben sich von der Menge ab und bewegten sich unaufhaltsam auf mich zu. Ich saß in der Falle.
Oh nein, ganz sicher nicht heute .
Debbie war geradeaus weitergelaufen, also schlug ich mich nach rechts durch. Hier musste es doch irgendwo einen Ausweg geben. Das Trommeln meines Herzschlags in meinen Ohren übertönte das Gemurmel der vielen Leute. Mein Blick schweifte über die Menge. Alle bewegten sich so unkontrolliert und ziellos. Wie sollte man da den Überblick bewahren?
Ich hielt kurz an, rang nach Atem und drehte mich dabei im Kreis. Verdammt, welcher Weg führte aus dem Markt? Die Menschenmenge war dicht an allen Enden, doch die blauen Polizeikappen bahnten sich einen steten Weg in meine Richtung. Und das auch noch unglaublich schnell. Wie war das nur möglich in einem Gewimmel, das so dick war wie Miss Weatherbys Vanillepudding?
Schweiß perlte von meiner Stirn. Miss Mulligan würde mich eigenhändig erwürgen, wenn ich schon wieder Ärger mit der Polizei bekam. Ein plumper, übergewichtiger Mann mit grüner Mütze rempelte mich an. Ich verlor das Gleichgewicht und stieß beinahe einen kleinen Jungen um, dessen Gesicht nur aus großen, erschrockenen Augen und einem Schnuller bestand. Gerade fing ich mich noch, doch ich konnte nicht verhindern, stattdessen mit einer wirklich alten Dame zu kollidieren. Sie hatte einen krummen Rücken und ein Tuch um den Kopf, worunter ihr graues Haar hervor blitzte. Ihr schrilles Gekreische tat mir nicht nur in den Ohren weh, sondern verriet mich auch noch an die Bullen. Na großartig.
„Entschuldigen Sie bitte“, murmelte ich.
Die Brille mit Stahlrahmen saß nun schief auf ihrer Nase und sie hatte eine ihrer beiden Krücken fallen lassen. Ich bückte mich, um sie
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