Märchensommer (German Edition)
rufe ich Miss Mulligan an. Ich kann im Moment leider nicht weg, also wird sie wohl herkommen und dich abholen müssen.“
Also kein Cheeseburger heute. Dafür die Gewitterziege. Das Herz rutschte mir in die Hose. Ich konnte mir schon bildlich ausmalen, wie die sommersprossige Bohnenstange ausflippen würde, wenn sie gleich hörte, dass ich auf dem Polizeirevier festsaß. Wieder einmal. Mein achtzehnter Geburtstag war nur noch sieben Wochen entfernt. Sechs Wochen und fünf Tage, um genau zu sein. Sie würde doch ihre Drohung nicht tatsächlich noch wahr machen und mich so kurz vor meiner Freilassung vom Jugendheim aus an die Behörden übergeben. Oder?
Zwei Stunden später folgte ich Miss Mulligan durch die schwere Eingangstür des Instituts. Mein Blick war starr auf den grauen Linoleumboden gerichtet, doch das Flüstern hinter vorgehaltenen Händen und die abfälligen Blicke meiner Heimgenossen entgingen mir keineswegs.
„Geh auf dein Zimmer!“, befahl Miss Mulligan. An ihrem Gesichtsausduck war zu erkennen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren momentanen Ärger im Zaum zu halten. „Ich werde jetzt erst mal Richter Smith anrufen. Wir beide unterhalten uns später.“
Richter Smith anrufen? Dem Himmel sei Dank, sie war immer noch auf meiner Seite! Ich kannte ihr Vorgehen von meinen früheren Eskapaden. Erst machte sie einen Anruf bei Gericht und versuchte die Behörden davon zu überzeugen, keine Anklage zu erheben. Das Heim würde für den verursachten Schaden—oder, in diesem konkreten Fall, für den gestohlenen Sweater—aufkommen. Dann würde sie mich zu einer inoffiziellen Anhörung schleifen, bei der ich meine guten Absichten zur Besserung beteuern sollte. Am Ende würde ich vielleicht mit zwei Wochen Zimmerarrest und Fernsehverbot davonkommen.
Akzeptabel.
An diesem Abend kam die Gewitterziege persönlich in mein Zimmer und teilte mir mit, dass das gefürchtete Treffen mit Abe für kommenden Dienstag festgelegt worden sei. Außerdem sagte sie mir, dass sie an dem Tag, an dem ich achtzehn werden und das Institut für immer verlassen würde, vor Freude auf ihrem Schreibtisch Stepp tanzen werde.
Ich hatte keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.
Die wenigen Tage bis zu meiner Anhörung verbrachte ich in meinem spärlich eingerichteten Zimmer mit schmutzigen Wänden und kaltem Linoleumboden. Auf dem klapprigen, alten Metallbett zusammengekauert, steckte ich meine Nase die meiste Zeit in ein Buch und meine Füße unter die kratzige Wolldecke. Das schale Licht der Lampe, die auf einem Stuhl neben meinem Bett stand, spendete kaum genug Licht, um nachts die Worte zu entziffern. Doch das hinderte mich nicht.
Ich las gerade die Geschichte von Peter Pan, der seiner Freundin Wendy das Fliegen beibrachte und mit ihr über ein schlafendes London schwebte. Vielleicht sollte ich mein Fenster offen lassen und auf jemanden wie ihn hoffen, der mich heute Nacht noch nach Nimmerland entführte. Tja, schön wär’s …
Am Dienstagmorgen schlüpfte ich in meine besten schwarzen Jeans, reparierte das Loch über dem rechten Knie mit einer Sicherheitsnadel und schrubbte meine schäbigen Stiefel. Ein schwarzer Kapuzensweater, dessen Ärmel fünf Zentimeter zu kurz für meine Arme waren, rundete mein Outfit für besondere Anlässe ab.
Als ich die Stufen in die Eingangshalle runterkam, wartete Miss Mulligan bereits auf mich. Das schmale Kleid, das sie trug, sah aus, als hätte sie sich eine knallpinke Signalflagge um den Körper gewickelt. Sie hetzte mich nach draußen und in ein Taxi, das uns zum Gerichtsgebäude fuhr. Wie üblich sollten wir Abe in dem Raum hinter dem großen Saal treffen. Als wir den langen Gang im ersten Stock des Gebäudes nach hinten eilten, stieg mir plötzlich ein altbekannter Duft in die Nase. Kirschblüten. Der Geruch rief eine schmerzhafte Erinnerung aus längst vergessenen Zeiten wach. Ich kannte auf der ganzen Welt nur eine Person, die dieses besondere Parfüm getragen hatte. Aber das konnte doch nicht sein.
Ich hielt an und drehte mich um. Miss Mulligan sah mich verwundert an, aber ich kümmerte mich nicht weiter um sie. Stattdessen atmete ich den süßen Duft tief ein und blickte dabei nach allen Seiten. Aber die eine Person, nach der ich Ausschau hielt, war nirgendwo zu sehen.
War wohl doch nur ein Irrtum. Ich atmete erleichtert aus.
Vor Richter Smiths Amtszimmer war ein Wachmann postiert. Erst nachdem wir ihm meine nette, offizielle Einladung gezeigt hatten, ließ er uns
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