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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Mal einen Esel jämmerlich schreien hören und mich an diesen Julitag 1936 erinnern) und ist nach draußen zu mir gestürzt, das abgezogene Kissen im Arm. Während sie nach meiner Wunde sieht, starre ich auf das große rote Inlet und denke: So viel Blut! Und das ist mein Blut, das in solcher Menge von mir läuft. Meine Verletzung war nicht wirklich böse, eine Platzwunde nur, die sich unter meinen Strubbelhaaren verstecken ließ, sie schmerzte nicht lange. Doch fortan war alles anders: Im Garten stand ein Kinderwagen mit dem schreienden Peter.
    Er war ein Junge. Er war blond. Er hatte «gute Äugle».

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    Januar
    Sebastianstag 2010. Es poltert. Schranktüren klappen auf, klappen zu. Beinahe wütend klingt es. Wieso ist Konrad um Mitternacht auf dem Speicher? Später höre ich seine Stiefel im Schnee, er stapft am Gewächshaus vorbei. Bei jedem Schritt ein kleines Krachen, krrrk, krrrk, also ist die Schneedecke überfroren. Jetzt macht er einen Bogen um den alten Apfelbaum herum. Was tut er bloß? Mit einem Mal dämmert es mir, natürlich, das ist es, das ist mein Konrad: Er hat da oben im Dunkel alte Wintermäntel rausgesucht, um die Päonien vor dem schärfer werdenden Nachtfrost zu schützen.
    Am anderen Morgen stürzt er, sobald es hell ist, hinaus. Ich hinterher, ganz langsam. Im Winter muss ich draußen besonders achtgeben. Nicht so sehr wegen der Füße, die kennen unsere zweitausend Quadratmeter Garten in- und auswendig – die hohe Türschwelle zur Terrasse, die rauen Platten. Auf dem verschneiten Rasen kann ich mich, wenn nötig, an Bäumen festhalten, weiter hinten am Steintisch. Schwieriger als der rutschige Untergrund ist für mich das Weiß, das Gleißen des Schnees. Da ist kein Kontrast mehr, nicht ein klein wenig Farbe, die meinem Auge Orientierung geben würde.
    Vor ein paar Jahren habe ich noch geahnt, wie der Apfelbaum seine Zweige in den kalten Himmel reckt. Baumsilhouetten waren für mich immer die schönsten Winterbilder. Die Bäume erschienen mir in dieser Jahreszeit viel größer, zwischen dem Dunkel von Stamm und Ästen leuchtete es weiß oder hellblau oder knallblau, und ich konnte sogar erkennen, wo die Sonne hängt, manchmal war auch der Mond da. Gelbrot und voll mochte ich ihn besonders.
    Neben dem Steintisch blüht schon die Hamamelis. Ich rieche sie. Ihr Duft weckt Erinnerungen an ein Bild von früher: gelbe, spinnenartige Büschelchen, in der Mitte rostrot. Vor mir, etwa zwei Körperlängen entfernt, ist Konrad. Er hat die Mäntel über den Päonien gelüpft. Seinem ruhigen Hantieren nach zu urteilen sind sie unbeschadet über die Nacht gekommen. Ich wüsste zu gern, ob er mich anschaut.
    Als Kind reichte mein Sehen immerhin für Schneeballschlachten. «Wie machst du das nur, dass du uns triffst, Magdalena?» – «Wenn ihr schwätzt, weiß ich genau, wo ihr seid.» Ich habe immer auf den unteren Bereich des Körpers gezielt, nie in Richtung Gesicht. Das Beste am Schnee ist das Spontane: Einer schmeißt sich rein, der Nächste daneben, sofort ist eine Rauferei im Gange. Im Schnee ist sie selten böse. Vom Geschrei angelockt, kommen andere Buben und Mädle, und dann fliegen die Bälle. Wir waren oft zwanzig, dreißig Kinder, damals, in Freiburg.
    Der Januar ist der große Vorlesemonat, das ist geblieben. Gerade ist wieder der «Oblomow» von Iwan Gontscharow dran, schon zum zweiten oder dritten Mal im Leben. Ein Buch, das so richtig zur Jahreszeit passt, von einem faulen russischen Adeligen, der gern Winterschlaf hält. Jeden Abend liest Konrad daraus vor. Zwischendurch veranstaltet er seine Kerzenorgien – in einer alten Ofenkachel Stumpen verheizen, das liebt er, einen nach dem anderen.
    Ich bin ein Januarkind.
    Fast wäre ich in diesem Januar 2010 gestorben.

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    Großvaters Farben
    Mit meinen dreieinhalb Jahren wurde mir allmählich bewusst, ich bin anders als andere Kinder. Wenn die Mutter mal wieder mit Spucke meinen Hals bearbeitete und seufzte: «Du bist so dunkel! Man sieht ja nicht, ist das Dreck oder ist deine Hautfarbe so», dann fühlte ich mich fremd in der Familie, mit meinem schwarzen Strubbelkopf und meiner Haut, die im Sommer braun wurde wie Honigkuchen. Mutter war hellblond, mein Bruder Peter auch. Das liebevolle Gerede von meinen «schlechten Äugle» hatte jetzt einen Beigeschmack – der erste Mitleidsschluck, würde ich heute sagen. Natürlich war ich eifersüchtig, jedes erstgeborene Kind, das ein Geschwister bekommt,

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