Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
niemals losgelassen hat. Ich verfiel dem Radio. Es war ein «Körting», Modell «Miros», ein ziemlich feudales Ding, die meisten Leute mussten seinerzeit mit einem Volksempfänger vorliebnehmen. Vater kaufte es 1935 oder 1936, und ich bin mir ziemlich sicher, er tat es meinetwegen. Dieses Superradio thronte auf dem Rollladenschrank im Wohnzimmer, und ich konnte es nur mit dem Schemelchen erreichen. Vorne hatte es rotbraunes Glas, darin ein langer roter Zeiger, der sich bewegen ließ. Beim Drehen des Knopfes wanderte er nach rechts oder nach links, über seltsame, aus dem Inneren des Kastens erleuchtete Zeichen. Teils rund, teils eckig, «Buchstaben», sagte Mutter, «geschriebene Namen von Städten.» Einer fiel mir besonders auf: Bu-da-pest. Mit ihm habe ich mich angefreundet.
Es war nicht wirklich nötig für mich, den Ton aufzudrehen. Wenn ich es riskierte, musste ich damit rechnen, dass schnell ein Erwachsener sich einmischte und etwas anderes hören wollte. Mutter konnte Schlager und Tanzmusik nicht leiden, sie war ein großer Opernfan. Schnell lernte ich zwischen ernster Musik und «Scheißradaumusik» zu unterscheiden. Klaviermusik hat mich sehr angezogen, «die mit dem heiseren Klavier», das Wort Cembalo kannte ich noch nicht. Vater wiederum mochte Marschmusik und noch lieber gar keine, Aus-Knopf gedrückt und fertig.
Manchmal brüllten Männer aus dem Radio. «Äääkch, äääkch», ein entenartiger Singsang – das war der Goebbels. Der andere hieß Adolf Hitler. «Volksgenossen!», so begann er immer. Ein Organ hatte der, wie wenn er den lieben langen Tag nichts anderes tun würde als schreien. Brüllige Stimmen machten mir Angst, also hab ich die Ohren auf Durchzug gestellt, ob es dieser Hitler «in Berlin» war, der brüllte, oder mein Vater. Wenn mich jemand gefragt hätte, welcher Mensch meinen Ohren am angenehmsten war, hätte ich mich, ohne zu zögern, für die behagliche Stimme unseres Münsterpfarrers entschieden.
Bei gutem Wetter spielte ich oft im Garten. Dort gab es ein schmales Beet, da wuchsen Steinpflanzen, auch Phlox und zwei Rosenstöcke. Zu jeder Jahreszeit andere Blumen, mal Maiglöckle, mal Eisenhut. Unter dem Fliederstrauch Walderdbeeren und, wo es schattig war, Farne. Alles schön akkurat angeordnet von der Tante, die Evangelische hasste.
«Mach nichts kaputt, Magdalena!», rief es aus dem Fenster.
Ich musste immer damit rechnen, dass mich jemand von da oben beobachtete. Dabei bewegte ich mich im Garten ganz, ganz vorsichtig. Ich roch an den Blüten, fasste sie an. Besonders liebte ich dieses Zarte, Seidige vom Mohn. An einem Frühsommertag hab ich angefangen, Grünzeug zu essen. Begonienblüten mochte ich unheimlich gern, weil die so schön sauer waren. Das war, was ich mir holen konnte, alles andere wurde mir zugeteilt. Oft hab ich mich mit Blumen geschmückt, dieses Gefühl auf der Haut, das war das Größte. In gewisser Weise bin ich wie eine Wilde aufgewachsen. Einmal hab ich Dodo, meine Puppe, in den Hortensientopf auf der Terrasse eingepflanzt, damit sie so groß wird wie die meiner Cousine. Ich dachte, sie wächst, wenn sie im Regen steht. Und dann ist der Kopf aus Pappmaché aufgeweicht.
Bei Platzregen wurde der Hof immer zu einem gelbbraunen Drecksee, die Treppe zur Waschküche war dann ein kleiner Wasserfall. Während die Erwachsenen mit Eimern rumrannten, ruderte ich in einem kleinen Holzbottich umher, oder ich zog mir leere Farbbüchsen über die Schuhe und stolperte durch die Pfützen.
Es waren einsame Spiele. Diese kindliche Einsamkeit spüre ich heute, mit siebenundsiebzig Jahren, an gewissen Tagen immer noch. Stärker als diese war jedoch der Übermut, das immer Neue, das da draußen und überall auf mich wartete. Einen Riss bekam meine Welt erst, als mein Bruder geboren wurde und ich kein Einzelkind mehr war, im Sommer 1936.
Die neue Zeit beginnt mit einer seltsamen Szene: Ich sitze in der Schaukel, meiner Schaukel. Mutter ist schon ins Krankenhaus gebracht worden, und eine fremde Frau ist da zum Kochen und Putzen und um mich zu beaufsichtigen. Gerade zieht sie im Schlafzimmer die Betten ab, bemerkt nicht, dass ich entwischt und in die Schaukel geklettert bin. Niemand hat den Schieber vorne zugemacht, und so schaukle ich und schaukle, wild wie gewohnt, und fliege mit dem Kopf zuerst auf den eisernen Fußabkratzer. «Du blutest ja!», schreit die fremde Frau entsetzt. Sie ist meinem Schmerzensschrei gefolgt (im Krieg, im Schwarzwald, werde ich zum ersten
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