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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Farben. Mutters rote Strickjacke leuchtete, wenn sie sich mir näherte. Auf eine gewisse Entfernung waren sie da, das Rot und das Blau, Orange und Weiß, sprangen mich freundlich an oder belästigten mich. Ganz besonders verabscheute ich das komische Gelbgrün, in dem unser Treppenhaus gestrichen war. Umrisse von Menschen und Dingen nahm ich wahr, deutlich oder weniger deutlich, an einem hellen Morgen mehr, nachts gar nicht. Natürlich nicht, Nacht ist eben Nacht. Vater war dick, ein Zweizentnermann, der Großvater zierlich und ein wenig krumm. Dass ein Mensch einen anderen sehen kann, wenn dieser auf der gegenüberliegenden Straßenseite geht, wusste ich nicht. Auch nicht, dass man ein Gesicht aus der Nähe betrachten kann, wie verschieden Augenbrauen sein können, was Sommersprossen sind. Was für ein Spiel ist das «Mienen-Spiel», das die Erwachsenen manchmal erwähnten? Ich kannte es nicht, und mir fehlte es damals, in meiner Kindheit, nicht. Konnte ich doch alles, was ich brauchte. Zum Beispiel war ich sehr geschickt darin, auf dem Teller das größte Radiesle zu finden. Wenn ich mit der Hand darüberstrich, spürte ich, welcher Stiel am höchsten war, und ich hatte das größte Knübbele erwischt.
    In unserem Haus bewegte ich mich absolut sicher. Es hatte vier Stockwerke, nur eines wurde vermietet, ansonsten war es von Verwandten bewohnt. In der vornehmen Beletage lebten die Großeltern, oben unterm Dach wir, Johann und Else Eglin und ich, Magdalena Eglin. Bald nach meinem zweiten Geburtstag zogen wir ins Erdgeschoss um, so waren wir näher am Hinterhof, wo sich das Gärtchen befand und die Malerwerkstatt meines Großvaters, deren Chef nun mein Vater wurde.
    Viel Platz für kindliche Abenteuer. Besonders aufregend war das Zimmer der Modistin, einer langjährigen Mieterin. Wenn sie Hüte änderte und der neuen Mode anpasste, war immer etwas übrig: buntes Ripsband, Schleifen und Schleierchen, das schenkte sie mir zum Spielen. In dem großen Haus gab es Zonen der Stille – im Sommer, wusste ich, würde mich auf dem Trockenboden niemand finden – und Orte, wo häufig Spannung in der Luft lag. Meistens konnte ich sie wittern, bevor das Geschrei losging, und rechtzeitig das Weite suchen. Ich erinnere mich an Worte, die mich den Kopf einziehen ließen, und an eine untergründige Traurigkeit.
    Die Ursachen habe ich natürlich erst viel, viel später verstanden: Mein Großvater Daniel Eglin hatte als junger Mann, 1894, das Haus als Bauruine erworben und dafür sein ganzes Erspartes, das er als wandernder Malergeselle verdient hatte, eingesetzt, zusätzlich eine Riesenhypothek aufgenommen. Er hatte es tatsächlich geschafft, nicht pleitezugehen, sich hochzuarbeiten, und war ein angesehener Malermeister geworden. Acht Gesellen und ein eigenes Haus in der Erasmusstraße, nach einer geradezu irrsinnigen Anstrengung ein gewaltiger gesellschaftlicher Aufstieg. Weil keine der drei Töchter einen Maler zum Mann nahm, musste schließlich der widerstrebende Sohn, Johann Eglin, das Erbe antreten – für meinen Vater lebenslang ein Unglück. Er hatte mittlere Reife gemacht, eigentlich Buchhalter werden wollen. Sein Traum war, einer Gesellschaftsschicht zuzugehören, wo man saubere Hände hat.
    Vater war herrisch, auch in der Familie, und reizbar. Ich kenne ihn nur so, selten habe ich ihn ruhig reden hören. «Magdalena, mach das! Mach es so, wie ich es dir sage, Magdalena!» Mir sind vor allem Befehle im Kopf geblieben.
    Eines der hässlichen Wörter, die mit schöner Regelmäßigkeit durchs Haus flogen, lautete: «evangelisch». Am furchterregendsten wirkte es kombiniert mit anderen Wörtern. «Evangelische Schlampe!», kreischte meine Tante Regina über den Flur. Die zweitälteste Schwester meines Vaters lebte mit ihrer Familie im dritten Stock, Rufe von dort fürchtete ich sowieso. «Evangelisch» war meine Mutter Else gewesen. Sie war, während sie mich im Bauch trug, konvertiert, hatte sich im Kloster St. Lioba, nicht weit von hier, das Katholische angeeignet. Ihre evangelische Herkunft galt jedoch nach wie vor als Makel. In meiner väterlichen Verwandtschaft, bei den Eglins, blieb sie eine Fremde. Meine Tanten fingen immer wieder davon an, sie horchten mich aus: Ob meine Mutter uns mit Weihwasser besprenge? Ob sie zu Tisch bete, ob sie auch nicht fluche? Ich beantwortete alles wahrheitsgemäß. Eine seltsame Zeit: Bevor ich richtig von Gott wusste, wurde mir eingebläut, dass es zwei Glauben gab, einen rechten

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