Magermilch
derart gründlich aus den Augen verloren?«, fragte Marco. »Weshalb ist denn dein Kontakt zu ihm abgebrochen?«
»Nicht nur zu Willi ist der Kontakt abgebrochen«, antwortete Fanni, »zur gesamten Clique.« Sie besann sich einen Moment und fügte dann hinzu: »Martha ausgenommen. Wir beide treffen uns einmal im Jahr – mal bei ihr, mal bei mir –, trinken Tee und klatschen ein wenig.« Sie verstummte.
»Und wieso ist der Kontakt abgebrochen?«, erinnerte sie Marco an seine Frage.
»Es fing damit an«, erwiderte Fanni, »dass Hans Rot von Jahr zu Jahr bequemer und schwerfälliger wurde. Gegen Ende der Neunziger war es so weit, dass er bei den meisten Bergtouren, die Willi organisierte, nicht mehr mithalten konnte. Deswegen haben wir uns nach und nach zurückgezogen, haben immer weniger der Touren mitgemacht – und nur noch die ganz leichten. Vor fünf oder sechs Jahren war aber dann endgültig Schluss.«
»Von einem Tag auf den anderen?«, fragte Marco.
»Fast«, sagte Fanni. »Hans ist noch ein paarmal zu einem Stammtischtreffen ins Ruderhaus gegangen. Aber bald hat er es nicht mehr ertragen, wie die Aktiven ihre Erlebnisse ständig wiederkäuten und sich aufplusterten, wenn sie von einer Bergtour zurückkamen. Früher hat er das natürlich genauso gemacht, aber danach hat es ihn plötzlich gestört. Am meisten hat er sich damals über Hannes Gruber beschwert. ›Prahlhannes‹ hat er ihn genannt, ›Aufschneider‹, ›Schaumschläger‹, und dann ist Hans immer seltener zu den Treffen gegangen. Als er dann allmählich beim Schützenverein und beim Kegelclub Fuß fasste, erlosch sein Interesse an Willis Gruppe endgültig.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und ich persönlich habe diese Stammtischtreffen sowieso gehasst. Da bin ich mir immer vorgekommen wie Phil Connors in ›Und täglich grüßt das Murmeltier‹.«
Marco lachte.
»Du willst damit sagen: Am Stammtisch wurden jedes Mal die gleichen Geschichten aufgewärmt?«, fragte Sprudel.
Fanni begann in leierndem Tonfall: »Toni hat sich drei Rippen gebrochen, als er auf dem Aletschgletscher über eine Spalte sprang; Martha hat auf der Rudolfshütte ihren Rucksack stehen lassen und es erst gemerkt, als sie im Tal aus der Seilbahn stieg; Gisela geriet im Toten Gebirge in einen Steinschlag und hat seitdem eine Narbe quer über dem Handrücken; Toni hat sich drei Rippen gebrochen, als er auf dem Aletschgletscher über eine Spalte sprang; Martha … – und täglich grüßt das Murmeltier.«
Es war eine Weile still am Tisch. Dann fragte Marco: »Und was passierte, nachdem ihr der Bergsteiger-Clique den Rücken gekehrt hattet?«
Fanni sah ihn verdutzt an. »Nichts, die andern haben ohne uns weitergemacht. Schöne Touren, soviel ich von Martha ab und zu erfahren habe. Strahlhorn, Königsspitze, Ortler«, fügte sie träumerisch hinzu. »Willi hat seine Leute geschickt und sicher durch all die Routen geführt. Er war ein guter Bergsteiger. Versiert und umsicht…« Sie unterbrach sich und sog scharf die Luft ein. »Willi hätte sofort gesehen, dass die Anseilschlaufe an seinem Klettergurt beschädigt war.«
Marco schüttelte den Kopf. »Der Einschnitt war verdeckt.«
»Verdeckt?«
»Als ich vorhin in der Polizeiinspektion war, um mich zu informieren, hat mir der Kriminaltechniker, der Willis Kletterausrüstung untersucht hat, den Gurt gezeigt. Die manipulierte Stelle ist durch eine Hülle aus Nylon kaschiert. So ungefähr.« Er streckte seinen linken Zeigefinger aus und wickelte ein leeres Zuckertütchen um das Fingergelenk. »Unter der Lasche befindet sich die präparierte Stelle.«
»Das hätte Willi nicht bedenkenlos hingenommen«, entgegnete Fanni. »Er hätte sich gefragt, wer an seinem Gurt herumgepusselt hat, und hätte ihn genauestens untersucht.«
»Auf dem Nylonschlauch, der das präparierte Stück der Anseilschlaufe ummantelt, ist der Name ›Willi Stolzer‹ eingestickt«, sagte Marco.
Darüber dachte Fanni lange nach. Dann sagte sie: »Der … ähm, Mörder könnte Willi angeboten haben, den Klettergurt mit Monogramm zu versehen.« Sie atmete tief durch. »Das hätte Willi gefallen.«
»Ich werde Martha einen Kondolenzbesuch abstatten«, verkündete Fanni, nachdem Marco sich verabschiedet hatte.
»Jetzt gleich?«, fragte Sprudel. »Ist das nicht zu früh?«
»Nein«, sagte Fanni. »Die Polizei wird ihr längst mitgeteilt haben, dass Willi abgestürzt ist. Vermutlich hat sie auch schon erfahren, wer ihn gefunden hat. Und deshalb gehe
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