Magermilch
sie vor der Fleischtheke stehen und sah sich das Angebot an. Putenschnitzel.
Schneller fertig gebraten, als Hans Rot sein erstes Glas Bier hinunterschütten kann, dachte sie. Und Hans liebt Putenfleisch.
Hormonbelastet und mit Antibiotika verseucht! Willst du ihn vergiften, weil du zu feige bist, ihn zu verlassen?
3
»Willi hat’s erwischt«, sagte Hans Rot mit einem großen Fleischbrocken zwischen den Backenzähnen.
Verglichen mit der Geschwindigkeit, mit der sich tragische Nachrichten in unserem Landkreis verbreiten, dachte Fanni, erscheint mir der Orkan, der vergangenes Jahr den halben Bayerwald umgemäht hat, als laues Lüftchen.
Sie versuchte sich an einer harmlosen Miene. »Wen hat was erwischt?«
»Gevatter Tod hat sich unsern alten Willi geholt«, präzisierte Hans. »Willi Stolzer, mit dem wir früher so oft in die Berge gefahren sind, ist im Deggenauer Klettergarten tödlich abgestürzt.«
»Hatte er sich denn nicht mit Gurt und Schlingen und Karabinern gesichert?«, fragte Fanni übertrieben einfältig.
»Sabotage«, antwortete ihr Mann. Mit vollem Mund hörte es sich an wie »Schaboschasche«.
Er schluckte zerkaute Pute hinunter, spülte mit Bier nach und erklärte dann: »Jemand hat dafür gesorgt, dass Willis Klettergurt nicht mal eine Maus vor dem Abstürzen bewahrt hätte. Als Willi im Quergang auf Zug ging, hat’s ratsch gemacht, und kurz darauf lag er gut zwanzig Meter weiter unten – mausetot.«
Fanni musste nicht schauspielern, um völlig entgeistert zu wirken. Woher hat Hans diese kaum gewonnenen Ermittlungsergebnisse?
Prickelnde Neuigkeiten verbreiten sich doch immer wie Lauffeuer!
Vielleicht haben Martha und Toni am Nachmittag mit den anderen aus der Clique gesprochen, dachte Fanni. Mit Hannes und Elvira, mit Rudolf … Die könnten dann Freunde angerufen haben, die wiederum …
»Jetzt hat sie Nägel mit Köpfen gemacht, damit sie ihn endlich los ist«, sagte Hans Rot.
»Wer?«, fragte Fanni perplex.
»Meine Güte, Fanni«, nuschelte Hans mit einer Garbe Salat im Mund. »Kann man sich noch blöder anstellen? Erstens ist Martha die Einzige, die an Willis Klettergurt herummanipulieren konnte – oder glaubst du, Willi hat seinen Gurt in der Bahnhofshalle aufbewahrt? Zweitens treiben es Martha und Toni jetzt schon so lange heimlich miteinander, dass Martha wahrscheinlich genug davon hatte, Willi was vorzumachen.«
»Martha und Toni?«, krächzte Fanni. »Aber Gisela? Martha und Toni! Nein, Martha hat Willi angebetet.«
»Ha«, rief Hans kauend. »Nimm doch mal eine Minute die Scheuklappen ab, Fanni. Was sagt es uns denn, wenn eine verheiratete Frau so um ihren Mann herumscharwenzelt, wie Martha es bei Willi immer getan hat? Da ist was faul, oberfaul.«
Hm, dachte Fanni, es ist also was faul, wenn sich miteinander verheiratete Menschen auch in den Jahren nach ihrer Hochzeit noch sichtlich gut verstehen.
Sieh dich um, Fanni! Hans Rot hat da nicht so ganz unrecht! Schau sie dir an, all die verheirateten Paare! Aus Tausenden von Zankereien haben sie Berge von Altlasten angehäuft, die sich nicht entsorgen lassen wie Schnapsflaschen im Glascontainer. Ganz im Gegenteil, die Sentiments wachsen und gären, verpesten die Luft, nehmen den Ehepartnern den Atem, vergiften die Beziehung. Nur wenige schaffen es, Meinungsverschiedenheiten sachlich zu diskutieren. Die meisten werfen sich dabei Beleidigungen an den Kopf – Bosheiten, die ewig kleben bleiben!
Fanni hatte Messer und Gabel in akkurater Symmetrie quer über ihren leeren Teller gelegt und starrte darauf hinunter.
Martha und Willi waren die Ausnahme, dachte sie, weil beide das Glück hatten, von klein auf zu lernen, wie man mit Kontroversen umgeht.
Fanni erinnerte sich, dass Martha manchmal von ihrer Kindheit in der Pastorenfamilie erzählt hatte. Sie und ihre sechs Geschwister waren relativ freizügig erzogen worden. Strafen gab es nur, wenn sie sich stritten. »Jeden einzelnen Streitpunkt«, hatte Martha ihren Vater oft zitiert, »kann man beilegen, sofern die Kontrahenten sachlich, redlich und unvoreingenommen argumentieren.«
An dieses Prinzip hat sie sich gehalten, dachte Fanni. Für Martha kommt Brutalität als Lösung – welchen Problems auch immer – nicht in Betracht.
Und Willi, überlegte Fanni weiter, stand seiner Frau in dieser Hinsicht nur in wenig nach. Schon in ganz jungen Jahren hatte er mit Toni zusammen die Firma des früh verstorbenen Vaters übernehmen und mit all den langjährigen Angestellten und
Weitere Kostenlose Bücher