Magermilch
Sprudel ein. »Martha Stolzer wirkte erschüttert, bestürzt, fassungslos. Auf die Frage, wer Gelegenheit gehabt haben könnte, sich an Willis Klettergurt zu schaffen zu machen, antwortete sie: ›Eigentlich nur Toni und ich.‹ Würde sie das zugeben, wenn sie schuldig wäre? Hätte sie die Tat begangen, dann würde sie wohl so was wie ›Alle Welt‹ oder ›Halb Deggendorf‹ geantwortet haben. Außer sie ist so durchtrieben, dass sie sich ausdrücklich anbietet …«
Fanni schnaubte. »Das wird ja immer schöner! Martha als raffinierte Mörderin hinzustellen, die es versteht, die Polizei auf ganz abgefeimte Art hinters Licht zu führen.«
»Trotzdem dürfen wir sie als Täterin nicht ausschließen«, sagte Sprudel.
»Genauso wenig wie mich«, setzte Fanni hinzu.
»Fanni –«
Sie unterbrach ihn: »Hat der Kommissar den Gurt schon zur Untersuchung ins Labor geschickt? Es könnten DNS-Spuren darauf zu finden sein – Hautschüppchen, Haare, vielleicht sogar ein Blutfleck. Der Täter könnte sich in den Finger gestochen haben, als er die Anseilschlaufe präparierte.«
»Ich habe nichts darüber erfahren, ob Gewebeproben genommen und ausgewertet werden«, erwiderte Sprudel, »und ich frage mich, wie zweckmäßig das wäre. Gewiss gibt es haufenweise Hautschüppchen und Haare auf dem Gurt – nämlich diejenigen, die Willi dort hinterlassen hat. DNS-Spuren, die von Martha stammen, haben eigentlich auch ein Recht, sich dort zu befinden. Wenn sie den Gurt in der Hand gehabt hat, heißt es ja noch lange nicht, dass sie ihn präpariert haben muss. Fremde DNS dürfte sich – falls sie überhaupt da ist – schwerlich einer Person zuordnen lassen. Und selbst wenn, letztendlich sagt das – wie bei Martha – nicht mehr und nicht weniger aus, als dass diese Person den Gurt irgendwann einmal angefasst hat.«
»Da kann man sich gut herausreden«, gab Fanni zu, »weil es sich gar nicht vermeiden lässt, Gurte und Schlingen in die Hand zu nehmen, die im Gemeinschaftsraum einer Berghütte liegen oder auf der Hüttenveranda zum Trocknen ausgebreitet sind.«
Nachdem Fanni es strikt abgelehnt hatte, noch das winzigste Stückchen davon zu essen, schaufelte Sprudel den zweiten Bienenstich auf seinen Teller. Dann sagte er: »Ein vertrackter Fall. Obwohl nur diejenigen als Täter in Frage kommen, die mit Willis Hobby vertraut waren und zudem Gelegenheit hatten, seinen Gurt zu präparieren, könnten sich die Ermittlungen äußerst schwierig gestalten.«
Nachdenklich pflichtete ihm Fanni bei. »Dem Täter ist es gelungen, den solidesten Pfeiler der Kriminalisten zu untergraben.«
»Ja«, erwiderte Sprudel, »das Überprüfen von Alibis ist diesmal hinfällig. Der Mörder könnte auf Pilgerfahrt nach Altötting gewesen sein, als Willi abgestürzt ist.«
Es war still, bis Sprudel seinen Teller leer gekratzt hatte. Dann sagte Fanni: »Wie soll man bloß vorgehen, wenn man keine Ahnung hat, wann die den Mord auslösende Tat begangen wurde? Wenn man nur den Zeitpunkt kennt, an dem ihre Wirkung eintrat?«
»Siehst du die Parallele zum Giftmord?«, fragte Sprudel. »Auch da sind Alibis wenig von Nutzen. Die Kernfragen lauten: Wer kam an das Gift? Wie brachte er es dem Opfer bei?«
»Wer kam an den Gurt?«, begann Fanni. »Wie …« Sie gab auf. »Nein, Sprudel, das bringt uns nicht weiter.« Nach einer Pause sagte sie trübsinnig: »In früheren Fällen haben wir uns immer voll auf die Alibis konzentriert.«
Sprudel lachte leise. »Weißt du noch, wie wir einen deiner Nachbarn nach Eggenfelden verfolgt haben?«
Fanni lächelte. »Sehr gut weiß ich es noch. Und ich werde nie vergessen, wie wir die Falkensteiner Stammtischbrüder ausspioniert haben.«
»Das wurde brandgefährlich«, sagte Sprudel ernst, »und ich will nicht, dass du dich noch mal in solche Gefahr begibst. Lass Frankl ermitteln …«
»Damit er mich am Ende doch noch einsperrt«, schnappte Fanni. Sie stand auf, ging zum Brunnen hinüber, pumpte einen Krug voll Wasser, kehrte an den Tisch zurück und goss das perlende Bergwasser in zwei Gläser.
Sprudel sah offenbar ein, dass sie sich von weiteren Überlegungen und Nachforschungen im Mordfall Willi Stolzer nicht würde abhalten lassen, denn nach einem bedächtigen Schluck Wasser sagte er: »An der Absturzstelle gibt es nicht die kleinste Spur. Keine frischen Abriebe, keine Kleiderfasern, keine Schürfstellen, keinen Hinweis auf einen Kampf. Das bedeutet, Willi Stolzer hat das Drahtseil aus freiem Antrieb
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