Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
kalten Boden zu legen, ließ sie frösteln.
Das Krähengeschrei dauerte an. Sie blickte hinauf und prüfte die Äste. Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr auf einen Baum geklettert. Damals war das eine Überlebenstaktik gewesen, ein Versteck vor Onkel und Tante. Ihre schmerzenden Muskeln erinnerten sie allerdings, wie töricht es war, momentan irgendwo hinaufsteigen zu wollen. Töricht oder nicht, dort oben war sie sicher. Er würde nicht in den Baumkronen nach ihr suchen. Andere nächtliche Jäger ebenfalls nicht. Mein Gott, an Tiere hatte sie bisher noch gar nicht gedacht.
Der Baum neben ihr war im perfekten Y gegabelt, so dass sie in der Astgabel gut sitzen konnte. Sofort machte sie sich an die Arbeit, sammelte Äste und Zweige ein und häufte sie über Kreuz gelegt auf, um eine provisorische Leiter zu bekommen. Sobald sie die unteren Äste des Baumes erreichte, konnte sie sich hinaufschwingen in das Y.
Sie dachte nicht mehr an Müdigkeit oder das Brennen der zerschnittenen Füße. Mit jeder Ladung Zweige oder dem Heben eines Astes drängten ihre Muskeln sie, die Tätigkeiten sofort einzustellen. Doch von neuer Energie beflügelt, machte sie weiter, so dass ihr der Pulsschlag in den Ohren dröhnte.
Die Krähen über ihr schwiegen, als beobachteten sie ihre fieberhaften Bemühungen voller Interesse. Oder horchten die Tiere auf etwas? Sie hielt inne, die Arme voller Äste. Ihr Atem ging rasselnd, und sie hörte kaum mehr als das Hämmern des eigenen Herzens. Sie hielt die Luft an und lauschte. Stille ringsum, als hätte die hereinbrechende Dunkelheit jeden Laut und jede Bewegung geschluckt.
Dann hörte sie es.
Zuerst klang es nach einem verwundeten Tier, nach unterdrücktem Schreien oder hohem Greinen. Sie drehte sich langsam und blinzelte angestrengt in Nebel und Dunkelheit. Plötzlicher Wind schuf nächtliche Schatten. Aus schwingenden Zweigen wurden winkende Arme. Raschelnde Blätter klangen wie Schritte.
Tess ließ die Zweige fallen und sah sich ängstlich um. Konnte sie ohne die provisorische Leiter in den Baum gelangen? Ihre Finger krallten sich in die Baumrinde. Vorsichtig trat sie auf den Holzstapel und prüfte seine Haltbarkeit. Sie zog sich hoch und griff nach dem nächsten Ast. Er knarrte unter ihrem Gewicht, brach aber nicht. Sie hielt sich mit beiden Händen fest, obwohl lose Borke abbröckelte und ihr in die Augen fiel. Sie war so weit, die Beine in das Y zu schwingen, als aus dem unterdrückten Wimmern erkennbare Worte wurden.
„Hilfe! Bitte hilf mir jemand!“
Der Wind trug das Flehen klar und deutlich heran. Tess erstarrte geradezu. Sie hing am Ast, die Füße ein Stück über dem Holzhaufen baumelnd. Vielleicht bildete sie sich das ein? Vielleicht spielte ihre Wahrnehmung ihr vor Erschöpfung Streiche.
Ihre Arme schmerzten, die Finger wurden taub. Wenn sie es inden Baum schaffen wollte, musste sie jetzt gleich die letzten Reserven mobilisieren.
Wieder wehten die Worte heran wie Nebelschwaden.
„Bitte, hilf mir jemand!“
Das war eine Frauenstimme, und sie war nah.
Tess ließ sich zu Boden fallen. Inzwischen konnte sie in der zunehmenden Dunkelheit nur noch einen knappen Meter weit sehen. Sie ging langsam auf die Stimme zu. Die Arme vor sich ausgestreckt, folgte sie dem Weg und zählte im Stillen ihre Schritte. Zweige rissen ihr an den Haaren und zu spät erkannte Äste griffen nach ihr. Sie bewegte sich auf die Stimme zu, ohne zu rufen, um sich nicht zu verraten. Vorsichtig auftretend, zählte sie weiter, um sich notfalls umdrehen und zu ihrem sicheren Zufluchtsort zurücklaufen zu können.
Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Dann plötzlich tat sich der Boden unter ihr auf. Tess fiel, und die Erde verschluckte sie.
44. KAPITEL
Tess lag am Boden der Grube. Ihr Kopf dröhnte. Ihre Seite brannte, als stünde sie in Flammen. In ihrer Panik atmete sie rasch und keuchend. Um sie herum nichts als Schlamm, der an Armen und Beinen sog wie Treibsand. Ihr rechter Knöchel lag verdreht unter ihr. Sie wusste sofort, dass es schwierig werden würde, ihn zu bewegen.
Der Geruch von Schlamm und Verwesung ließ sie würgen. Ringsum totale Schwärze. Sie sah absolut nichts. Über sich erkannte sie die Schatten einiger Äste, doch auch das restliche Licht wurde von Nebel und der hereinbrechenden Nacht geschluckt. Die Schatten, die sie ausmachen konnte, verrieten ihrlediglich, wie tief ihr erdiges Grab war. Bis hinauf waren es mindestens vier Meter. Großer Gott, da würde sie niemals hinaufklettern
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