Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
Ermittlungen im Mordfall Rita, beschrieb das blutgetränkte Apartment, die spermafleckigen Laken und die Reste von Haut und Gewebe in Ritas Badewanne. Gleiche Funde hatten sie im Whirlpool am Archer Drive gemacht. Nur hatte Stucky in Ritas Apartment darauf verzichtet, hinterher zu putzen. Warum war er dann im Haus am Archer Drive nach Jessicas Ermordung so penibel vorgegangen? Etwa, weil er es noch einmal benutzen wollte? Hatte er Tess McGowan dorthin gelockt und verschleppt? Und wenn ja, wo hielt er sie versteckt?
Maggie schloss die Augen und wünschte sich, die Enge in der Brust loszuwerden. Sie musste sich entspannen. Es war zu leicht, die schrecklichen Bilder wachzurufen. Ihr Beruf verlangte von ihr, sich Tatortszenarien vorzustellen. Sie war darauf trainiert. Doch diesmal verfluchte sie diese Fähigkeit geradezu. Sie wollte dieschlimmen Bilder unterdrücken, aber ihr Verstand gehorchte nicht. Sie sah, wie Jessica Beckwith ihr mit kleinen Händen den Pizzakarton überreichte. Dann sah sie dieselben kleinen Hände in dem leeren Schlafzimmer nach der Wand greifen und daran hinabgleiten. Warum hatte niemand ihre Schreie gehört, wo sie doch so laut und deutlich in ihrem Kopf hallten?
Sie legte die Waffe beiseite und rieb sich mit beiden Händen die Augen. Es half nichts. Sie erinnerte sich an Ritas Gesicht. Die Kellnerin war müde gewesen, hatte sie und ihre Begleiter in der verrauchten Bar jedoch freundlich bedient. Und dann tauchte mühelos das Bild von Ritas mit Abfall bedeckter Leiche auf, von der durchschnittenen Kehle und dem blutigen Klumpen, ihrer Niere, auf einer glänzenden Dinnerplatte. Beide Frauen waren tot, weil sie das Pech gehabt hatten, ihr zu begegnen. Und Maggie war sicher, dass weitere Frauen aus demselben Grund verschleppt worden waren.
Sie wollte schreien und toben, sie wollte, dass das Pochen im Kopf aufhörte und ihre verdammten Hände still hielten. Seit Tully den Stapel Einwickelpapier von Schokoriegeln gefunden hatte, dachte sie an Rachel Endicotts Verschwinden und das Einwickelpapier in ihrer Küche. Zog sie voreilige Schlüsse? Bemühte sie sich zu sehr, eine Verbindung zwischen dem Verschwinden von Rachel und Tess herzustellen?
Auf den Stufen in Rachels Haus hatte sie Lehm entdeckt. Lehm mit einer seltsamen metallischen Substanz. Tully hatte erwähnt, dass auf Jessicas Gaspedal ein glänzender Lehm gefunden worden war. Konnten beide Klumpen aus derselben Gegend stammen? Tully hatte noch etwas gesagt, an das sie sich nicht erinnern konnte, das ihr jedoch bedeutsam erschien. Es nagte an ihr. Vielleicht ein Detail aus dem Polizeibericht?
„Verdammt!“ schimpfte sie und erinnerte sich nicht, was ihr aufgefallen war.
In letzter Zeit schien sich ihr Verstand aufzulösen. Ihre Nerven lagen blank, und ihre Muskeln waren durch ständige Alarmbereitschaft erschöpft. Dass sie das nicht verhindern oder wenigstens beeinflussen konnte, empfand sie als sehr belastend.
Albert Stucky hatte sie genau da, wo er sie haben wollte, über einem imaginären Abgrund baumelnd. Er hatte sie zur Komplizin seiner Untaten gemacht, indem er sie unwissentlich auswählen ließ, wer sein nächstes Opfer werden sollte. Er wollte, dass sie seine Verantwortung teilte. Er wollte ihr die Macht des Bösen begreiflich machen. Versuchte er so, das Böse auch in ihr zu wecken?
Sie nahm die Smith & Wesson wieder auf, ließ die Hände über das kühle Metall streichen und schloss sorgfältig, fast ehrfürchtig die Finger um den Griff. Sie ignorierte die Ohrschützer, die ihr um den Hals baumelten, und ließ die Schutzbrille auf dem Kopf. Sie hob den rechten Arm, Ellbogen leicht angewinkelt, stützte die rechte Hand mit der Linken, starrte daran entlang und zwang sie, nicht zu zittern und sich nicht zu bewegen. Ohne weiteres Zögern betätigte sie den Abzug und feuerte in rascher Folge, bis sechs Kugeln verschossen waren und ihr der Mündungsqualm in die Nase stach.
Die Ohren klingelten ihr. Sie entspannte den Arm und ließ ihn am Körper herabhängen. Mit Herzklopfen drückte sie den Knopf an der Wand und zuckte beim Kreischen des Zugs, der ihr die Zielscheibe näher brachte, zusammen. Die dunkle Gestalt, ihr vermeintlicher Angreifer, blieb mit Papiergeraschel und metallischem Klang vor ihr stehen. Maggie sah, dass sie genau ins Ziel getroffen hatte, atmete tief durch und seufzte. Sie hätte erleichtert sein sollen über ihre Präzision. Stattdessen hatte sie das Gefühl, ihr letzter Halt über dem Abgrund bröckele
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