Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
allmählich ab. Denn die sechs Kugeln, die sie so sachkundig und bewusst abgefeuert hatte, steckten genau zwischen den Augen ihres Opfers.
43. KAPITEL
Tess kam schlitternd zum Stehen. Ihre nackten Füße waren mit Schlamm bedeckt. Sie konnte es riechen und merkte, dass auch Hände, Hose und abgestoßene Ellbogen schlammbedeckt waren. Sie erinnerte sich nicht, sich die Bluse zerrissen zu haben, doch beide Ellenbogen sahen hervor, zerkratzt, blutig und jetzt auch noch mit moderigem Schlamm bedeckt. Der Regen hatte aufgehört, ohne dass es ihr gleich aufgefallen war. Doch die Pause würde von kurzer Dauer sein. Die Wolken waren dunkler geworden, und der Nebel wurde dichter und strich um sie herum wie unruhige, aus dem Boden aufsteigende Geister. Herrgott, sie sollte nicht an solche Dinge denken. Sie sollte gar nicht denken, nur rennen.
An einen Baum gelehnt, versuchte sie zu Atem zu kommen. Sie war dem einzigen Weg gefolgt, den sie in dem dichten Wald finden konnte, und hoffte, er führte sie in die Freiheit. Sie war am Ende ihrer Nerven, Panik hatte sie fest im Griff. Sie erwartete, dass ihr Entführer jeden Moment hinter einem Busch hervortrat und sie packte.
Trockene und gebrochene Zweige durchstachen ihren Deckenumhang. Etliche Male war sie damit hängen geblieben und dann zurückgerissen worden, als packten Hände nach ihrem Hals. Die schmerzhaften Würgemale waren dabei eine unliebsame Erinnerung an seinen Angriff gewesen. Trotzdem ließ sie die Decke nicht fallen, da sie ihr wie ein schwacher Schutzschild vorkam. Von Regen und Schweiß war sie klatschnass. Feuchte Haare klebten ihr am Gesicht, und die Seidenbluse lag an wie eine zweite Haut.
Der dichte Nebel durchnässte sie weiter. In weniger als einer Stunde würde sich Dunkelheit über diese endlosen Wälder senken. Die Gewissheit machte ihr noch mehr Angst. Sie konnte durch denfeuchten Dunst kaum noch etwas sehen. Zwei Mal war sie einen Abhang hinabgerutscht und fast in eine Wasserfläche gestürzt, die von oben nur wie dichter grauer Nebel ausgesehen hatte. Die Dunkelheit würde weiteres Vorankommen unmöglich machen.
Der Entführer hatte ihr aus offensichtlichen Gründen die Armbanduhr abgenommen. Den Saphirring und die Ohrringe hatte er ihr gelassen. Den Dreitausenddollarring hätte sie liebend gern für ihre Timex eingetauscht. Die Zeit nicht zu wissen war furchtbar. Welcher Tag war überhaupt? Konnte es noch Mittwoch sein? Nein. Sie erinnerte sich, dass es beim kurzen Erwachen im Auto dunkel gewesen war. Ja, Scheinwerfer waren ihnen entgegengekommen. Was bedeutete, dass sie den größten Teil des Donnerstags geschlafen hatte. Ihr wurde plötzlich klar, dass sie keinen Anhaltspunkt hatte, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Vielleicht tagelang.
Die neue Angst machte das Atmen wieder beschwerlicher. Nur die Ruhe! Sie musste gelassen überlegen, wie sie die Nacht verbringen wollte, und es Schritt für Schritt planen und angehen. Zwar riet ihr der Instinkt weiterzurennen, doch sagte die Vernunft, dass es wichtiger war, einen Platz für die Nacht zu finden. Inzwischen fragte sie sich, ob sie nicht besser in dem Schuppen geblieben wäre. Hatte sie mit ihrer Flucht wirklich etwas erreicht? Im Schuppen war es wenigstens trocken gewesen, und die klumpige Pritsche kam ihr jetzt wunderbar behaglich vor. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier war, und es sah nicht danach aus, als sei sie ihrem Ziel, diesem Waldgefängnis zu entfliehen, trotz meilenweiten Laufens auch nur ein Stück näher gekommen.
Sie kauerte sich hin, den Rücken gegen die raue Holzrinde eines Baumstammes gelehnt. Sie musste die Beine ausruhen, aber wachsam und fluchtbereit bleiben. Schwarze Krähen stießen empört auf sie herab und erschreckten sie. Sie blieb still sitzen, zumüde und schwach, ihnen auszuweichen. Die Krähen sammelten sich für die Nacht in den Baumwipfeln. Hunderte kamen aus allen Richtungen angeflattert und taten mit rauen Schreien kund, dass sie ihren abendlichen Schlafplatz einnahmen.
Ihr kam plötzlich der Gedanke, dass die Vögel sich hier kaum niederlassen würden, wenn sie diesen Platz nicht für sicher hielten. Sollte es in der Nacht eine Störung oder gar Gefahr geben, warnten die Krähen sie vermutlich zuverlässiger als jede Alarmanlage.
Sie sah sich suchend nach einem sicheren Ruheplatz um. Hier lag ein Teppich aus abgefallenen Blättern und Piniennadeln vom letzten Herbst. Jedoch war alles von Regen und Nebel durchnässt. Der bloße Gedanke, sich auf den
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