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Magical Mystery

Magical Mystery

Titel: Magical Mystery Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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lag, hatte ich in genau dem Moment, wo ich zum ersten Mal mit beiden Beinen auf dem leicht schwankenden Anleger stand, der von den Wellen, die für einen Fluss ganz schön groß waren, ordentlich hin und her wackelte, hatte ich also genau in dem Moment eine Art Flash und ich kam mir, vielleicht wegen dem schwankenden Boden und dem starken, kalten Wind und der Sonne, die alles aus einem blauen Himmel heraus beschien, über den weiße Wolken jagten, ich kam mir also in dem Moment plötzlich unfassbar frei vor, so frei, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, weil der Gedanke, so frei zu sein, mich sofort völlig lähmte, es gab so viele Sachen, die ich seit Jahren nicht tun durfte und auch nicht getan hatte, dass ich jetzt, wo ich diese unglaubliche Freiheit verspürte, überhaupt nicht wusste, was ich jetzt machen sollte, und das Problem war natürlich, dass mir erst einmal gar nichts einfiel, deshalb konnte ich mich nicht mehr bewegen, ich stand auf dem Schwimmponton, ratlos, der gute alte Brain ein wild kreiselnder Kompass, der keine magnetischen Feldlinien mehr hatte, und ich fühlte, dass es undenkbar war, hier jetzt einfach weiterzumachen, womit auch immer, ich musste erst die Lücke in meinem Denken, die da unversehens aufgeklafft war, mit einem neuen Plan füllen, eine Richtung finden, in die ich gehen konnte, nachdenken, nachdenken, nachdenken, ich blieb also einfach stehen, während die anderen, die hinter mir gewesen waren, an mir vorbei auf die Barkasse latschten und ihre Tickets, die wir oben, auf festem Boden noch, gekauft hatten, abreißen ließen und an Bord einen Tisch besetzten und schon mal was zu trinken bestellten, während ich breitbeinig und mit den Wellen mich leicht wiegend auf dem Schwimmanleger stand und stand und stand und immer mehr Leute an mir vorbeiliefen, und ich sah, wie Raimund in der Kajüte verschwand und mit einem Arm voll Flaschenbier wieder herauskam und es verteilte und wie sie anstießen und tranken, und dann stand Rosa auf und ging von Bord und zu mir her und fasste mich am Arm und sagte: »Alles okay?«
    »Jaja«, sagte ich. Die Berührung am Arm hatte den Zauber gebrochen, sie war etwas Handfestes und plötzlich hatten die Dinge wieder eine Richtung, nämlich die, in die sie mich am Arm hinter sich herzog und ich ging mit und setzte mich zu den anderen an den Tisch und jemand rief »Mensch, Charlie, was ist denn los?«, und ich sagte: »Musste kurz nachdenken!«, und das reichte ihnen allen als Erklärung natürlich voll aus, Nachdenken, wegen sowas kann man schon mal in eine Schockstarre geraten, kein Ding das, Hallihallohallöchen, hoch die Tassen bzw. die Flaschen, und plötzlich hatte ich eine Bierflasche in der Hand und ich weiß auch gar nicht, ob mir die einer da hineingedrückt hatte oder ob ich sie mir selbst aus dem Flaschengewirr auf dem Barkassentisch herausgesucht hatte, aber vollmechanisch stieß ich mit den anderen an und hob sie gerade zum Mund, als ich, auf die gute alte Karl-Schmidt-Weise beim Ansetzen der Flasche den Kopf langsam nach hinten biegend, oben an Land, auf uns herunterguckend und mit offenem Mund mich anstarrend, Klaus-Dieter sah.
    Und genau so, mit Klaus-Dieter im Blick, trank ich meinen ersten Schluck Bier nach fünf Jahren.
    Es traf mich wie ein Schock, ich hatte ja gar nicht darauf geachtet, was ich tat, und als das Bier in den Mund lief, kam sofort die Angst, zugleich aber auch die Verwunderung darüber, dass es nicht so schmeckte, wie ich es in Erinnerung hatte, es war nicht das kühle, erfrischende, den Durst löschende Spaßgetränk, es kam mir vor wie eine dickflüssige, süßlich-bittere Suppe, und zugleich sah ich den Mund von Klaus-Dieter noch weiter aufgehen, Klaus-Dieter hatte den endgültigen, ultimativen Clean-Cut-1-Schreckensmoment live mitbekommen: Einer hatte wieder angefangen, einer war wieder drauf.
    Ich wedelte mit dem Zeigefinger in seine Richtung, immer hin und her, wie um »nein, nein, nein, Missverständnis!« zu sagen und spuckte das Bier über Bord, gottseidank saß ich so, dass hinter mir gleich das Wasser war. Klaus-Dieter konnte dieses Überbordspucken leider nur von hinten sehen, ich musste mich dazu ja umdrehen, aber ich hoffte mal, dass er es mitgekriegt hatte, dann wedelte ich wieder verneinend mit dem Finger, zeigte auf die Bierflasche, zeigte auf meinen Mund, schüttelte ganz klar ablehnend den Kopf, zuckte mit den Schultern, es war die reinste Marcel-Marceau-Scheiße, aber auf Speed, die ich da abzog, nur

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