Magie und Schicksal - 2
anderen sind bereits zum Haus zurückgekehrt, um James und mir Gelegenheit zu geben, in aller Stille von meiner Schwester Abschied zu nehmen.
Und voneinander.
Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll. Ich möchte, dass James das Ausmaß von Alices Liebe und die Bedeutung ihres Opfers begreift, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er wirklich an die Prophezeiung glaubt. Ich habe nach unserer Rückkehr aus Avebury versucht, ihm
alles zu erklären, aber die Schilderung der Umstände von Alices Tod scheint an seinem ausdruckslosen Gesicht abzuprallen. Er hat mir keine einzige Frage gestellt.
Für James stellt sich vermutlich alles viel einfacher dar. Die Einzelheiten spielen keine Rolle. Alice ist tot. Und ich gehöre nicht mehr zu ihm.
Endlich drehe ich mich zu ihm um und schaue in sein liebes Gesicht. »Sie hat dich geliebt und sie wollte sich deiner Liebe als würdig erweisen.« Das ist das Wichtigste; alles andere spielt keine Rolle.
Er atmet hörbar ein.
Dann drehte er sich um, den Hut in der Hand. »Ist es meine Schuld?«
Ich schüttele den Kopf. »Natürlich nicht. Alice tat, was sie tun wollte, wie immer. Du hättest sie nicht aufhalten können, selbst wenn du die Möglichkeit gehabt hättest, es zu versuchen. Niemand hätte das vermocht.«
Er seufzt und dreht sich mit einem halbherzigen Nicken wieder dem Grab zu.
»Was wirst du jetzt tun?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Was ich immer getan habe: den Buchladen führen, gemeinsam mit Vater. Und versuchen, das alles irgendwie zu begreifen.« Er legt den Kopf schräg und schaut zu mir hin. »Was ist mit dir? Wirst du jemals zurückkommen?«
»Ich weiß nicht. Mit diesem Ort …« Ich blicke über die sanften Hügel, die Felder, auf denen wilde Blumen blühen. »Mit diesem Ort sind so viele schlimme Erinnerungen verbunden.
« Ich schaue ihn an. »Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder ertragen kann, hier zu leben.«
Er nickt. »Wenn du je zurückkommst, dann hoffe ich, du wirst es mich wissen lassen. Ich würde mich freuen, wenn du uns von Zeit zu Zeit schreibst, wie es dir geht.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Danke, James. Das werde ich.«
Er setzt den Hut auf und beugt sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Der Geruch, der so typisch für ihn ist – der Geruch nach Büchern, Staub und Tinte – zieht mir in die Nase, und mit einem Mal bin ich wieder fünfzehn Jahre alt.
»Lebe wohl, Lia.«
Ich blinzle gegen die Tränen an, die in meinen Augen brennen. »Leb wohl, James.«
Und dann geht er davon. Ich schaue seiner kleiner werdenden Gestalt nach. Als sie hinter dem Hügel verschwindet, drehe ich mich zu den Gräbern um. Dort liegen Mutter und Vater unter wildem Gras, das ihre letzte Ruhestätte wie ein Teppich bedeckt. Heute Morgen habe ich weiße Lilien auf ihr Grab gelegt. Daneben sind die vom Alter gezeichneten Grabsteine meiner Großeltern.
Mein Blick fällt auf Henrys Grab. Violettfarbene Veilchen blühen darauf. Ich denke an sein freundliches Gemüt, seine Stärke und sein gutes Herz. Es ist kein Wunder, dass die Blumen auf seinem Grab die Farbe der Schwesternschaft haben.
Die Schwesternschaft und Altus.
Ich stelle mir vor, wie Henry unter dem strahlend blauen Himmel der letzten Welt über Wiesen und Felder läuft, endlich frei. Er verdient diese Freiheit, diesen Frieden, mehr als jeder andere. Ich küsse meine Fingerspitzen und lege sie dann auf die eingravierten Buchstaben seines Namens auf dem Stein.
»Leb wohl, Henry. Du wirst immer in meinem Herzen sein.«
Die Vergangenheit ist eine gewundene Straße, die mich an diesen Ort geführt hatte, ins Hier und Jetzt. Aber diese Straße endet nicht hier, sie führt weiter in die Zukunft, denn heute ist nicht nur ein Tag des Abschieds.
Es ist auch ein neuer Anfang.
Es war auf der Überfahrt von England nach New York. Dimitri und ich standen an Deck, unter uns und vor uns, so weit das Auge reicht, brodelte das Meer. Ich habe ihn nicht gleich angeschaut. Ich starrte einfach über das Wasser und erklärte ihm ganz ruhig, dass ich meinen Platz als Herrin von Altus einnehmen würde und auch als seine Gefährtin. Er beugte sich vor, lächelte und küsste mich mit jener zärtlichen Leidenschaft, von der unsere Berührungen seit Avebury geprägt sind. In seinen Augen stand alle Liebe und Gewissheit der Welt, als ob er niemals einen Zweifel an meiner Entscheidung gehabt hätte, und auch keinen Zweifel, dass ich leben würde, um diese Entscheidung treffen zu
Weitere Kostenlose Bücher