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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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langen Tages, den sie am Fenster eines pfeilgeschwinden Eilzugs verbracht hatte, an dunklen Wäldern und hellen Seen vorbeifahrend, ihrem Schicksal entgegen. Ein günstiger Wind, wohlgesonnen jenen, die verstreut über das silbrige Eis des Lebens gleiten, hatte Colombina ergriffen; die langersehnte Freiheit lockte die leichtsinnige Abenteurerin, breitete über ihrem Kopf die durchscheinenden Flügel.
    Der Zug brachte die blauäugige Reisende nicht ins quirlige Petersburg, sondern ins traurige und geheimnisvolle Moskau, in die STADT DER TRÄUME, die einer lebenslang ins Kloster eingesperrten Zarin glich, von einem launischen, leichtfertigen Herrscher, der statt ihrer eine kalte, schlangenäugige Heuchlerin zur Frau genommen. Mochte die neue Zarin den Ball im Marmorpalast anführen, dessen Spiegel die Wasser der Ostsee reflektierten. Die Verlassene weinte sich derweil die hellen, klaren Augen aus, und als ihre Tränen versiegten, schickte sie sich in ihr Los, verbrachte die Tage am Spinnrad und die Nächte im Gebet. Ich bin mit ihr, der Verlassenen, Ungeliebten, nicht mit der anderen, die siegreich ihr gepflegtes Antlitz der matten nördlichen Sonne entgegenreckt.
    Ich bin Colombina, unbedarft und unberechenbar, untertan lediglich der Laune meiner wunderlichen Phantasie und dem Wehen des übermütigen Windes. Habt Mitgefühl mit dem armen Pierrot, dem das bittere Los zufallen wird, sich in meine bonbonsüße Schönheit zu verlieben, denn es ist mein Schicksal, ein Spielzeug zu sein in den Händen des tückischen Betrügers Arlecchino, um hernach zerbrochen am Boden zu liegen, eine Puppe mit unbekümmertem Lächeln auf dem Porzellangesichtchen …«
     
    Wieder überlas sie das Geschriebene, und jetzt war sie zufrieden, schrieb aber nicht weiter, denn sie dachte über |19| Arlecchino nach, Petja Lilejko (Li-lej-ko – welch luftiger, lustiger Name, wie ein Glöckchenklang oder ein Tropfenschauer im Frühling!). Er war tatsächlich im Frühling gekommen, war in das Irkutsker Nicht-Leben eingebrochen wie ein Rotfuchs in einen schläfrigen Hühnerstall, hatte sie verzaubert mit seinen auf die Schultern niederwallenden feuerroten Locken, dem weiten Hemd und den betörenden Gedichten. Früher hatte Mascha nur darüber geseufzt, daß das Leben ein hohler und dummer Scherz sei, doch er sagte lässig, als sei das selbstverständlich, wahre Schönheit sei nur im Verwelken, Erlöschen, im Sterben. Die Provinzträumerin begriff: Ach, wie recht er hat! Wo wäre sonst noch Schönheit? Doch nicht im Leben! Was kann im Leben Schönes sein? Einen Steuerinspektor heiraten, einen Haufen Kinder gebären und mit sechzig mit einem Häubchen auf dem Kopf am Samowar hocken?
    Am Hochufer, bei der Laube, küßte der Moskowiter Arlecchino das vergehende Fräulein und raunte: »Aus dem blassen und zufälligen Leben mache ich ein Beben ohne Ende.« Und da war die arme Mascha vollends verloren, denn sie hatte begriffen: Das ist es. Ein schwereloser Schmetterling werden, der mit den regenbogenfarbigen Flügelchen flattert, und nicht an den Herbst denken.
    Nach dem Kuß bei der Laube (weiter war nichts) stand sie lange vor dem Spiegel, betrachtete ihr Bild und haßte es: das runde, rosige Gesicht, den albernen dicken Zopf. Und diese gräßlichen rosa Ohren, die bei der kleinsten Erregung glühten wie Mohn!
    Nachdem Petja die Ferien bei seiner Großtante, der Vizegouverneurswitwe, verbracht hatte, fuhr er mit dem Transkontinentalzug wieder zurück, und Mascha zählte die Tage, die noch bis zu ihrer Volljährigkeit blieben – genau hundert, |20| so viele wie Napoleon nach Elba vergönnt waren. Im Geschichtsunterricht hatte ihr der Kaiser schrecklich leid getan – nur für hundert Tage wieder Ruhm und Größe zu erlangen, doch jetzt begriff sie, wie lang hundert Tage sein können.
    Aber alles geht einmal zu Ende. Die hundert Tage waren um. Als die Eltern ihr an ihrem Geburtstag das Geschenk überreichten – Silberlöffelchen für den künftigen Hausstand –, ahnten sie nicht, daß sie ihr Waterloo gefunden hatten. Mascha hatte Schnittmuster für unvorstellbar kühne Kleider entworfen. Noch ein Monat nächtlicher Arbeit an der Nähmaschine, und die sibirische Gefangene war bereit für die Verwandlung in Colombina.
    Während der ganzen einwöchigen Bahnfahrt malte sie sich aus, wie Petja staunen würde, wenn er die Tür öffnete und sie sah – nein, nicht das schüchterne Irkutsker Dummchen im langweiligen weißen Musselinkleidchen, sondern eine

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