Magma
zwar um die ganze Welt, aber welcher Raum, welches Gebiet ist uns denn wirklich vertraut? Ich werde es euch sagen. Es ist unser Dorf oder Stadtviertel. Der Bäcker an der Ecke, der Metzger, die Kneipe zwei Straßen weiter. Unser Leben spielt sich auf kleinstem Raum ab. Wir wollen das nur nicht mehr wahrhaben, weil wir uns vorgaukeln, dass wir eine hochzivilisierte Spezies sind, die keinen Grenzen oder Beschränkungen unterliegt.«
Colin verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber worin genau liegt dann die Schwierigkeit dieser Aufgabe? Warum glaubst du, dass hier unsere Vernunft und nicht unsere Intelligenz getestet werden soll?«
»Ich glaube, diese Frage kann ich am besten beantworten«, sagte Helène. »Der pazifische Raum umfasst einundvierzig Anrainerstaaten. In etwa der Hälfte von ihnen befinden sich bestätigte Funde. Können Sie sich vorstellen, was für einen diplomatischen Aufwand es bedeutet, alle Staaten von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Handelns zu überzeugen und an einen Tisch zu bringen? Schlimmer noch, viele Staaten verfügen nicht über die notwendigen technischen Voraussetzungen, um die Kugeln zu bergen. Sie müssten also einer Weltmacht wie beispielsweise den USA Zutritt zu ihrem Territorium gewähren. Bei der derzeit angespannten politischen Weltlage beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.« Sie warf Ella ein grimmiges Lächeln zu. »Selbst wenn alle Staaten ihre Zustimmung geben, ist es ein gewaltiges logistisches Problem. Aber wir sind ja bekannt dafür, das Unmögliche möglich zu machen.«
Colins Augen leuchteten. »Eine solche Zusammenarbeit wäre in der Tat ein Beweis dafür, dass eine intelligente Spezies auch als Gemeinschaft funktioniert. Glaubt ihr, dass wir damit den Respekt der Fremden erlangen?«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Ella. »Es ist zumindest einen Versuch wert.«
»Das finde ich auch. Ich werde sofort alles veranlassen, damit unsere Kugel verladen und abtransportiert werden kann«, sagte Helène. »Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich gefahrlos transportieren lässt. Aber wir haben es ja auch geschafft, sie hierherzubringen.« Mit einem Seitenblick auf Ella fügte sie hinzu: »Wenn das wirklich funktioniert, werden Sie berühmt, das ist Ihnen doch hoffentlich klar.«
»Bedeutet das, dass ich zurück an meinen alten Lehrstuhl darf?«
»Darauf wette ich. Ich bin sicher, dass Sie an jeder Universität auf der Welt mit Kusshand genommen werden«, sagte Helène. »Aber jetzt müssen wir erst einmal etwas Kraft tanken. Der morgige Tag wird sicher aufregend.«
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Ella, die ihre Armbanduhr noch irgendwo in den Tiefen ihrer Reisetasche vermutete.
»Kurz nach drei Uhr morgens«, sagte Colin. »In diesem immerwährenden Kunstlicht vergisst man leicht die Zeit. Also ich werde Madame Kowarskis Rat folgen und mich aufs Ohr hauen. Gute Nacht zusammen.« Er drehte sich um und verließ das Labor.
»Ich werde mich auch hinlegen«, sagte Jan. Sie verabschiedete sich und folgte Colin. Dabei versuchte sie, den Eindruck zu erwecken, als habe sie es nicht eilig, den jungen Radiologen einzuholen. Doch Ella ließ sich nicht täuschen. Sie lächelte, als sie den beiden hinterhersah. »Ich glaube nicht, dass ich jetzt schlafen kann«, sagte sie und wandte sich wieder Helène zu. »Ich glaube, ich werde mir lieber noch etwas die Füße vertreten. Wenn Sie erlauben, würde ich dem Herzen des Berges gern noch einen letzten Besuch abstatten, ehe es von hier fortgeschafft wird.«
»Selbstverständlich«, sagte Helène. »So lange Sie wollen. Mehr als jeder andere hier im Berg haben Sie sich das Recht dazu erworben. Gehen Sie nur. Konrad wird Sie begleiten. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie noch einige Fragen an ihn haben, ehe wir morgen aufbrechen.«
Ella nickte. »Einen Tag wie diesen habe ich noch nicht erlebt. Ich habe das Gefühl, dass es uns gelingen könnte, die Kugeln zu stoppen. Vielleicht können wir den Dingen doch noch eine Wendung geben.« Ein angedeutetes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wohl in ihrer Haut. Zum ersten Mal spürte sie etwas ganz tief in sich, was sie verloren zu haben geglaubt hatte. Ein Gefühl von Hoffnung.
52
C olin hörte Schritte hinter sich. Als er sich umblickte, sah er Jan hinter sich hereilen.
»Was dagegen, wenn ich mich dir anschließe?«, fragte sie, als sie wenig später bei ihm ankam. Ihr Atem ging stoßweise. »Ich kenne mich hier nicht so gut
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