Magna Mater - Roman
nicht ihr Held gewesen. Erst die Massenvernichtungswaffen haben dieses Ideal entwertet Nun wollte keiner mehr den Heldentod sterben.«
»Der Vernunft sei Dank!«, rief ich.
Mam schüttelte ihren kahlen Kopf. »Das sahen die damaligen Machthaber aber ganz anders. Sie verkündeten: Wir müssen wieder lernen, für das Vaterland zu sterben, freiwillig und freudig. Der Feind lauert nicht links oder rechts, sondern mitten unter uns. Er spricht weder Russisch noch Chinesisch, ist weder schwarz noch rot, sondern alt, zu alt. Weltweit nehmen die Alten in erschreckender Weise zu. In den reichen Ländern muss jeder Arbeiter für drei Alte mitverdienen. Wohlgemerkt: drei Alte. Kranke und Kinder nicht mitgerechnet. Keine Gesellschaft kann sich das auf Dauer leisten. Und selbst wenn sie es könnte, wäre das sinnvoll und vernünftig? Ein Vogel, der in seinem Nest drei Junge füttert, dient seiner Art. Er erfüllt einen höheren Auftrag.«
Mam trank von ihrem Tee und meinte: »Damit kehren wir wieder zum Anfang unserer Geschichte zurück, zur Opferbereitschaft für das Vaterland. Es ist nicht einzusehen, sagten die Mächtigen, warum die Siebzigjährigen nicht genauso begeistert in den Tod ziehen sollten wie die Siebzehnjährigen. So wie man gestern die Söhne zum Schlachtfeld rief, so werden halt morgen die Großväter an der Reihe sein. Und wegen der Gleichberechtigung müssen auch die Großmütter nicht zurückbleiben.
Der Tod wurde in verlockenden Farben gezeichnet: Unter wehenden Fahnen, mit Marschmusik und donnerndem Hurra werden die Helden durch die Straßen marschieren. Die Menschen werden sich zu Tausenden drängen, denn heute ist der Tag des Heldentodes, der nationale Feiertag für alle. Die Mädchen werden den Vorbeimarschierenden Blumen und Kusshände zuwerfen. Die Buben werden mit leuchtenden Augen auf die Helden blicken. Wie gerne würden sie mitmarschieren: ›Mami, warum darf ich nicht?‹ ›Später, mein Junge, wenn du so alt wie der Opa bist.‹
Sie werden zum Ehrenmal des unbekannten Alten ziehen. Dort wird ein junger General zu ihnen sprechen. Und dann singen sie alle das Lied vom guten Kameraden.
Später, nach einem Fanfarenstoß und einem Salut aus hundert Kanonen, werden sich die bronzenen Flügeltüren der großen Heldenhalle öffnen. Im ganzen Land werden die Glocken läuten. Umrauscht von Wagner-Klängen, werden die Todbereiten in die heiligen Hallen einziehen, wo man ihnen das Lebenslicht ausblasen wird. Kein schöner Tod, aber der Ruhm fordert seinen Preis. Das war schon immer so.
Die unterirdischen Krematorien werden noch brennen, wenn in der Heldenhalle die Bronzetafeln mit den Namen der Gefallenen aufgestellt werden. Viele sind viel jünger als fünfundsechzig. Sie haben nicht gewartet, bis man sie einzog. Sie haben sich freiwillig gemeldet, fürs Vaterland.
Wir starben für euch, steht über dem Eingangsportal.
Am Rande der Stadt aber dämmern in einem Altenheim ein paar feige Strolche und Kriegsdienstverweigerer ihrem unehrenhaften Ableben entgegen. Auf sie warten die Schläuche der Intensivstation, Krebs und Verkalkung, Zahnfäule und Verfall. Aber sie haben es nicht besser verdient.«
Mam trank ihren Tee aus und nickte mit dem Kopf, so als wollte sie sagen: Ja, so war das damals.
»Hat es so etwas wirklich gegeben?«, fragte ich ungläubig, und sie erwiderte lachend: »Nein, natürlich nicht, aber so hätte es kommen können, wenn wir das Altenproblem nicht auf humane Art gelöst hätten.«
Ich erinnere mich an diese Geschichte deshalb so genau, weil sich mir damals zum ersten Mal die Frage nach unserem Ableben aufdrängte. Umgeben von gleichbleibend jungem Volk, kommt einem Kind, und das war ich ja noch, die zeitliche Begrenzung seines Dasein gar nicht in den Sinn. Wer denkt bei einer fröhlichen Kahnpartie schon an die Mündung des Flusses, auf dem er dahintreibt.
Als ich Mam fragte: »Wie enden wir eigentlich?«, erwiderte sie: »Wir Morituri verdorren. Das Leben der Blühenden aber endet in rauschender Glückseligkeit. Ihr Paradies ist nicht eine alberne Verheißung im Jenseits. Sie erfahren das Paradies leibhaftig und lebendig auf Erden.«
»Und wie geht das vor sich?«, wollte ich wissen.
»Eigentlich bist du noch zu jung für dieses Thema, aber ich will versuchen, es dir dennoch zu erklären.« Sie zog meinen Sessel dichter zu sich heran, nahm meine Hände in die ihren und blickte mir in die Augen, wie sie es immer tat, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen hatte: »Du hast
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