Magna Mater - Roman
würden, und Mam vertröstete mich wie schon so oft mit dem Versprechen: »Später, mein Kind, später.«
Als ich nicht aufhörte zu betteln, gab sie endlich nach und erzählte mit großen, leuchtenden Augen, so als spräche sie von einem Wunder.
»Die Brutzentrale besteht aus einer langen Reihe von riesigen Aquarien, mit glasklarem Fruchtwasser gefüllt. Darin schwimmen madenhaft blass die Heranreifenden. Nabelschnüre und Versorgungsleitungen umwabern sie wie Schlingpflanzen. Hin und wieder bewegt sich ein Beinchen. Hände greifen froschartig ins Leere. Ein kahler Kopf auf halslosem Leib pendelt gegen die Glaswand. Das alles ereignet sich in rötlichem Dämmerlicht bei absoluter Lautlosigkeit.«
In meinen Träumen sehe ich das so lebendig vor mir, als wäre ich dort gewesen, was ich ja auch war.
Ich träume nicht gern von früher.
In immer wiederkehrenden Albträumen schreckt mich die Vergangenheit: Unbewohnbar die nördliche Seite des Erdballs, verstrahlt von verunglückten Atomreaktoren und undichten Endlagern. London und Paris gehören den Ameisen und Kakerlaken, denen die Strahlung nichts auszumachen scheint. Verkrüppelte Ratten bevölkern die leer stehenden Gebäude. Auf den Autobahnen wuchert das Unkraut. Riesige Stahlmasten, die einst alle Welt mit elektrischem Strom versorgten, stehen mit ausgebreiteten Armen auf verödetem Land, als wollten sie das Dahingeschiedene segnen. Götzen einer untergegangenen Zivilisation.
6. KAPITEL
E s regnete, als ich Urutawa, die Insel allen Ursprungs, zum ersten Mal besuchte. Am Himmel zogen graue Wolken, und über dem Meer dampfte der Nebel. Eine Ordensschwester erwartete uns am Steg des kleinen Hafens. Sie führte uns zu einer Gruppe von riedgedeckten Häusern unter hohen Zypressen. Die Äste hingen regenschwer bis auf den Boden herab. Wir suchten eines der Häuser auf, in dem die Neugeburten versorgt werden.
Runde, nestartige Betten hängen dort an Hanfseilen von der Decke herab. Sie geraten in sanft pendelnde Bewegung, wenn die Kleinen mit ihren Beinchen strampeln, und das tun sie ständig. Viele tragen um den Kopf einen turbanartigen Verband, der in seltsamem Gegensatz zu ihren nackten Leibern steht.
Ich erschrak bei dem Anblick und rief entsetzt: »Was ist denn mit diesen armen Kindern geschehen?«
»Das sind keine Unfallopfer«, belehrte mich Mater Metula. »Das sind Beschnittene.«
»Beschnittene?«, fragte ich ungläubig.
»Die hormonelle Purifikation war ein erster Schritt, aber er allein reichte nicht aus, den Menschen von Grund auf zu erneuern.« Mater Metula wandte sich an die Ordensschwester: »Erklär du es ihr!«
Die Schwester, dunkelhäutig und vollbusig, mit auffallend weißen Zähnen, strich sich über den glatt rasierten Kopf und begann ohne zu stocken mit ihrem Bericht, so als hätte sie ihn auswendig gelernt:
»Unsere Vorfahren waren wie Obstbäumchen, die unbeschnitten heranwuchern. Jeder, der glaubt, dass sich damit brauchbare Ernten erzielen lassen, ist ein Narr. Pflanzen wie Menschen bedürfen der Veredelung. Schon die alten Ägypter kannten diesen Eingriff. Dabei wird den Neugeborenen der noch weiche Kopf so verformt, dass der Teil des Gehirns, der für das Kausalitätsdenken zuständig ist, durch ein bildhaftes Erinnerungsvermögen ersetzt wird.«
Sie berührte mit dem Zeigefinger ihren Scheitel und erklärte: »Hier haben Neugeborene eine offene Stelle in der Schädelplatte, die in den ersten Lebensmonaten zuwächst. Wir verhindern das. Unser Denkvermögen steht mit der Verhärtung des Schädels in unmittelbarem Zusammenhang. Das Offenbleiben der Fontanelle bewirkt grundlegende Veränderungen in der Verarbeitung der Sinnesreize. Daraus ergibt sich eine enge Verbundenheit mit den Kräften der Natur. Bei den alten Ägyptern blieb dieser Eingriff den Pharaonen vorbehalten, die daraus ihre überlegenen Kräfte schöpften.«
»Wie ich sehe, tragen auch hier nicht alle Kinder den Kopfverband«, unterbrach ich sie.
»Wir beschneiden nur die Mädchen.«
»Und warum?«
»Im Altertum sind nur die Jungen beschnitten worden. Wenn auch an anderer Stelle. Jetzt sind wir dran.«
»Dem männlichen Teil der Menschheit belassen wir das alte Kausalitätsdenken, da es für bestimmte Produktionsvorgänge von Vorteil ist«, schaltete sich Mater Metula in unser Gespräch ein.
Ich strich mir über den Kopf und fragte: »Bin auch ich beschnitten …?«
»Ja, auch dir ist wie allen Frauen die Trepanation zuteil geworden.«
Die Schwester schaute
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