Magna Mater - Roman
mich an, und als ich mit dem Kopf nickte, fuhr sie fort:
»Im Leben der Inder spielte das Prana eine wichtige Rolle. Prana ist die Energie, die nicht dem Verstand unterliegt, sondern der Atmung. Mit Hilfe dieser Kraft können Menschen über glühende Kohlen laufen, ohne sich zu verbrennen, sind in der Lage, Dinge zu tun, die sich verstandesmäßig nicht erklären lassen.
Die alten Chinesen wussten, dass jeder Mensch eine Art Kraftwerk ist, in dem eine Lebensenergie erzeugt wird, die zwischen einer einzelnen Persönlichkeit und der Natur energiemäßige Zusammenhänge schafft.
Wir haben dieses alte Wissen wieder zum Leben erweckt. So wie man im Atomzeitalter aus Uran, Öl und Steinkohle Energie gewann, so haben wir es geschafft, die Samenkraft in unseren technischen Dienst zu stellen.«
Sie griff in ihre Schürzentasche und holte ein paar Körner hervor.
»Schau dir diesen Samen an«, sagte sie. »In ihm schlummert eine Kraft, die bewirkt, dass aus ihm ein Keim hervorsprießt. Die Natur kann diese im Korn ruhende Kraft wecken. Die Menschen der vergangenen Kulturen konnten es nicht. Blind für die Bioenergie, befassten sie sich mit den toten Kräften der Materie. Sie ruinierten die Atmosphäre mit Verbrennungsabgasen, die Meere mit Erdöl und ganze Landstriche mit radioaktiver Strahlung.
Unsere Energieversorgung basiert auf Keimkraft, und der Weg dorthin führt über die Trepanation, über die Umstrukturierung unserer Gehirne.
Spätere Jahrhunderte werden unsere Ära einmal das Keimkraftzeitalter nennen, so wie wir rückblickend vom Atomzeitalter sprechen. Es ist seit der Nutzung des Feuers die wohl wichtigste Entdeckung des Menschen. Die neue Energie belastet die Natur nicht, denn sie ist ein Teil der lebendigen Natur. Und vor allem lässt sie sich mit geringem technischem Aufwand erzeugen.«
»Aber warum sind dann unsere Vorfahren, die schneller als der Schall flogen und sogar auf dem Mond landeten, nicht auch auf so eine einfache Lösung gekommen?«, fragte ich, und erhielt zur Antwort: »Weil ihnen das Geheimnis des Lebens verschlossen blieb. Sie suchten es in den Genen und Chromosomen, und das ist so aussichtslos, als wollte man das Geheimnis der Musik in dem Holz einer Flöte suchen.«
Auf der Rückreise schien die Sonne. Wir lagen auf dem Deck, schälten Orangen und beobachteten die Delfine, die neben uns durch die Wellen schnellten.
Wir kamen noch einmal auf die Keimkraft zu sprechen.
»Sie wurde mehr erträumt als erdacht«, sagte Mater Metula. »Wahrnehmung ist wichtiger als Verstand. Die Verhirnung führt zu Realitätsverfall. Die Welt wurde zerdacht. Lange Zeit war das Atom der kleinste Baustoff der Materie. Dann wurde auch das immer mehr zerlegt, zu Protonen und Elektronen und am Ende gar zu Strings.«
Ich fragte: »Strings? Was ist das?« Ich hatte noch nie davon gehört.
»Das sind Teilchen von unvorstellbarer Winzigkeit. Wie winzig, erkennt man erst, wenn man weiß, dass die Größe eines Strings sich zum Durchmesser eines Atoms verhält wie dieses zum ganzen Sonnensystem. In diesem unbegreiflichen Mikrokosmos gelten selbst die ehernen Gesetze der Mathematik und Physik nicht mehr.« Sie machte mit ihrer faltigen Hand eine wegwerfend Bewegung und sagte kopfschüttelnd: »Die Experimente wurden immer wahnwitziger und unbezahlbarer. Weil man wissen wollte, wie das Universum entstanden ist, wurden Unsummen für die Herstellung eines Urknalls ausgegeben. Der dauerte nur eine Milliardelstesekunde und war mehrere Billionen Grad heiß, was aber nicht messbar war.
Auf der Suche nach einer Weltformel, mit der sich alles berechnen ließ, verschlossen sie die Augen vor der Tatsache, die da lautet: Mit der Lösung aller wissenschaftlichen Fragen werden die Fragen, die unsere Existenz betreffen, nicht einmal berührt.«
»War der Atomzeitmensch dumm?«
»Nein, das war er ganz gewiss nicht. Aber in einem Punkt war er es doch. Er glaubte allen Ernstes, Leben ließe sich mit Hilfe einer Ursuppe auf chemisch-physikalischem Wege neu erzeugen. Er vermochte nicht einzusehen, dass das Leben wie das All keinen Anfang und kein Ende hat. Wie der Same einer Pflanze breitet es sich im All aus, um dort, wo es die richtigen Voraussetzungen vorfindet, sich zu neuen Lebensformen zu entfalten.
Mikroben, vor allem Viren, sind sehr widerstandsfähig. Im Inneren eines Gesteinsbrockens, vor kosmischer Strahlung geschützt, können sie Jahrmillionen in einer Sonnenlaufbahn überleben. Vermutlich geschieht es heute noch,
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