Magna Mater - Roman
Höhlungen des Leibes, in Ohren, Nase, Mund, Augen, umhüllten die Tote mit einem Gewand aus unzähligen kleinen krabbelnden Körpern.
Ich fand das so abscheulich, dass ich mich erbrechen musste.
Auf der Heimfahrt wurde ich belehrt: Als Teil eines Ganzen kommst du zur Welt; als Teil eines Ganzen kehrst du heim.
Die Emsen, so heißen die Ameisen im Orden, sind wie wir. In ihrem Volk gilt, was auch für uns gilt: Du bist, weil wir sind; weil wir sind, bist du. Der Einzelne hat kein Schicksal. Er steht und fällt mit dem Schicksal seines Volkes.
Mit diesem Konzept sind sie zur erfolgreichsten Art unseres Planeten geworden. Würde man alle Tiere der Erde auf eine Waagschale legen und alle Emsen auf die andere, so würden die Emsen die gesamte Tierheit aufwiegen. Aber sie sind nicht nur volkreicher, sondern auch widerstandsfähiger als alle anderen. Dort, wo die Menschen die Erde atomverstrahlt haben, da gehört das Land den Emsen ganz allein. Sie sind vermutlich die Einzigen, die den drohenden Supergau der alten Menschheit überlebt hätten. Sie sind uns in vielem überlegen.
Ich fand den Vergleich mit uns Menschen wahnwitzig übertrieben, musste aber später doch zurückstecken, als ich erfuhr, dass diese auf den ersten Blick so unscheinbaren Geschöpfe nicht nur gute Staatsbürger sind, sondern auch Künste beherrschen, die normalerweise den Menschen vorbehalten sind. Sie errichten Bauten, tausendfach höher als sie selbst, betreiben Viehzucht, indem sie sich Blattläuse halten, um sie zu melken. Andere, wie die Blattschneiderameisen, legen sich wohltemperierte Gewächshäuser an, in denen sie komplizierte Pilzzucht betreiben. Und das alles nur durch enge Zusammenarbeit.
Waren die Emsen bis dahin nur krabbelnde Punkte gewesen, so betrachtete ich sie von nun an mit anderen Augen. Wenn jetzt eine über den Gartentisch lief, beugte ich mich zu ihr hinab und sprach mit ihr. Einmal begegnete mir die Emsenkönigin der Toteninsel im Traum. Ich fragte sie: »Was weißt du von der Zeit und vom Tod?« Sie faltete ihre Fühler, so wie das Mater Metula immer mit ihren alten Händen tat, wenn sie mit mir sprach. »Welche Zeit meinst du, deine Zeit oder meine Zeit?«
»Ich meine die Zeit.«
»Jedes Ding hat seine eigene Zeit. Ein Berg hat eine andere Zeit als eine Blume. Ich habe eine andere Zeit als du. Selbst jeder Mensch lebt seine Zeit. Ein Tag im Leben eines Kleinkindes ist eine Ewigkeit. Ein Tag im hohen Alter ist ein Augenblick.«
»Und dennoch erwartet uns alle das gleiche grausame Ende.«
»Du nennst den Tod grausam. Warum?«
»Fürchtest du ihn nicht?«, fragte ich sie.
»Nein, wir alle sterben täglich, ohne tot zu sein. Du stirbst mit jedem Haar, das dir vom Kopf fällt, mit jedem Zahn, den du verlierst. Wir schwinden scheibchenweise. Man stirbt, solange man lebt. Der Tod erlöst uns erst vom Sterben.«
»Du sprichst so, als gäbe es den Tod nicht, als wäre er nicht wirklich.«
»So ist es«, antwortete die Emsenkönigin. »Ich will dir ein Geheimnis verraten: Nur der Tod der Geschöpfe, die du liebst, ist wirklich.«
Ich erwachte und dachte: Dann habe ich Mam geliebt.
Ich weiß nicht, warum ich solche Dinge aufschreibe. Aber sind nicht auch unsere Träume Teil unseres Lebens? Und ich träume oft und viel.
8. KAPITEL
M ittags flimmert die Hitze über dem Sandstrand. Kein Windhauch rührt sich. Kein Seevogel schreit. Nur das Rauschen des Meeres liegt weithin über dem Eiland. Wer eine Weile hinhorcht, vernimmt in der Ferne Kinderlachen. Die Mondfischbucht ist der beliebteste Badestrand der Insel, denn nirgendwo ist der Sand feinkörniger, wiegen sich die Palmen höher im Wind. Das wissen nicht nur die Blühenden, sondern auch die Delfine, die hier so zahm sind, dass wir mit ihnen spielen. Schon früh am Morgen stecken sie erwartungsvoll ihre Nasen aus dem Wasser, um nach ihren zweibeinigen Freunden Ausschau zu halten. Beim Anblick des ersten bunten Kopfschmucks springen sie hoch in die Luft, aus Freude und weil sie so den Strand besser überblicken können. Dabei glänzen ihre schlanken Leiber wie Silber.
Wenn die Sonne höher am Himmel steht, kommen die Seehunde auf den Strand, um sich mit den Badenden zu sonnen, nicht zu dicht nebeneinander, weil die Robben arg stinken und die Zweibeiner sich zu hektisch bewegen und zu viel Schabernack mit den schwerfälligen Tieren treiben. Die mögen es nicht, wenn man ihre schnurrbärtigen Köpfe mit Seetang und Muscheln schmückt. Sie lassen sich das Fell
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