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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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dass sie sich von Früchten und Wurzeln ernähren. Wenn jedoch der Regen ausbleibt und die pflanzliche Nahrung verdorrt, dann verwandeln sich die großen Affen in Kannibalen. Sie fallen Tiere an, mit denen sie sonst friedlich zusammenleben.
    Um solch blutige Auswüchse unter den Blühenden zu vermeiden und dennoch den schlimmsten Hunger zu stillen, predigte der Orden den Fischfang.
    Fische stehen den Pflanzen näher als den Tieren, so wurde argumentiert. Sie haben kein Blut in den Adern. Ihre farblose Körperflüssigkeit ist wie Pflanzensaft. Zum Beweis ihrer pflanzlichen Natur wurde angeführt, dass es unter den Fischen keine natürliche Sexualität gibt. Die Befruchtung erfolgt nicht wie bei den anderen Tieren im Leib der Weibchen, sondern außerhalb wie bei den Blütenpflanzen. Das hätten schon die Menschen der christlichen Ära richtig erkannt, die während der Fastenzeit kein Fleisch aßen, aber sehr wohl Fisch.
    Selbstverständlich galt das in unserem Fall nicht für die Delfine, Robben und Wale, denn die hatten ja rotes Blut in den Adern. Aber trotzdem erging es mir wie den meisten, die Mitleid mit den anderen Fischen empfanden, die, in Netzen gefangen, zappelnd und japsend auf den Schiffsplanken ihr Leben aushauchten. Es war widerwärtig, sie zu ermorden und aufzufressen. Noch schlimmer allerdings war es, dass wir uns schon bald daran gewöhnten.
    Wehret den Anfängen, lautet eine unserer Ordensregeln. Die Aufweichung eines Gebotes zieht weitere Verstöße nach sich. Und so verhielt es sich auch hier. Nach den Fischen standen schon bald andere Lebewesen auf dem Speiseplan. Warum soll man keine Schlangen essen, wenn man Aale verspeist? Und könnte man nicht auch die Albatrosse zu den Meerestieren zählen? Sie gleiten so dicht über dem Wasser dahin wie die fliegenden Fische.
    Immer spitzfindiger wurden die Ausreden, denn große Kinder haben großen Appetit. Wir Reifen ernährten uns weiterhin vegetarisch, hauptsächlich von Seetang und Meeresalgen, was den jüngeren Ordensfrauen schwerfiel. Sie stillten heimlich ihren Hunger mit Fisch und anderem Meeresgetier, was dem Orden nicht verborgen blieb. Aber niemand gebot ihnen Einhalt. Die alten Gesetze wurden immer öfter umgangen. Damals begann das Unheil.
    Der Verzehr von Lebewesen war ein Rückfall auf die Stufe der primitiven Urmenschen, die wie die Raubtiere jagten, um satt zu werden. Später domestizierten sie das Wild zu Haustieren, lebten mit ihnen in enger Gemeinschaft, um sie zu schlachten. Gegen Ende der christlichen Zeitrechnung verbluteten in einem einzigen Schlachthof bis zu vierzigtausend Schweine pro Tag. Der Mensch hatte sich zum blutrünstigsten Fleischfresser aller Zeiten entwickelt.
    Wie konnte die Menschheit dermaßen verkommen?, fragen mich meine Schüler heute. Haben die damaligen Priester nicht verkündet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
    Und ich erkläre ihnen dann: Unsere befellten und gefiederten Brüder wurden bedenkenlos verspeist, weil man glaubte, sie besäßen im Gegensatz zum Menschen keine unsterbliche Seele. Diese hielt man für wesentlich wichtiger als den Leib. Nur wer über eine Seele verfügte, galt als Gottes Ebenbild. Alle anderen Geschöpfe waren schutz- und rechtlos der Willkür der beseelten Menschen ausgeliefert. Man durfte mit ihnen anstellen, wozu man gerade Lust verspürte. Auf keinem anderen Gebiet war der Mensch so herzlos wie im Umgang mit den Tieren. Man konnte sie töten, um sie zu verspeisen, um sich mit ihren Fellen und Federn zu schmücken, sogar aus Spaß am Totmachen. Großwildjäger bezahlten enorme Summen, um Elefanten und Giraffen totschießen zu dürfen. Jagd und Angeln galten als Sport und Freizeitvergnügen. Versuchstiere mussten entsetzliche Schmerzen erleiden, um die Neugier der Forscher zu befriedigen.
    Wie überlegen hatten wir uns gefühlt, dieses mitleidlose Tiermorden abgeschafft zu haben! Und nun töteten wir wieder, um zu überleben. Welch ein Unglück, nicht nur für uns. Auch das brüderliche Verhältnis zwischen uns und den Tieren begann Schaden zu nehmen.
    Die Delfine kamen nicht mehr in die Mondfischbucht, um mit den Blühenden zu spielen. Und die Robben, die sich früher mit uns gesonnt hatten, verließen beim Anblick eines Menschen fluchtartig den Strand, so wie sie es immer gemacht hatten, wenn Haie in der Bucht waren. Nun waren wir wie Haie. Selbst mein guter alte Rabe Calligula, der so zutraulich war, dass er sich von allen den Kopf kraulen ließ, flog nun davon, wenn ihm

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