Magna Mater - Roman
Blühenden um einige Jahre hinausschieben ließ, warum dann nicht um weitere Jahre? Wurde damit nicht die bisher unanfechtbare Spanne der Lebenszeit in Frage gestellt?
Schon jetzt herrschte größte Verwirrung unter den Blühenden, die lebenslang jung und von keiner Krankheit bedroht, denen der Tod völlig fremd war. Niemals zuvor hatten diese großen Kinder einen Toten gesehen, und nun türmten sich die Leichen der Ertrunkenen zu schaurigen Bergen. An Stelle der Trommeln, die auf der Schmetterlingsinsel zur letzten Lust riefen, brannten in den Nächten die Scheiterhaufen, auf denen die Toten verbrannt wurden.
Der dunkle Vorhang des Todes, vom Orden sorgsam behütet, war zerrissen. Zerschlagen war die heile Welt der Blühenden. Sie bedurften der Hilfe wie Kinder, die in dunkler Nacht verängstigt aus ihren Träumen schrecken.
Vorrangig erschien uns der Aufbau der Säuglingsstation auf Urutawa. Besser geschützt und vor allem größer sollte sie sein. Denn wir hatten fast alle Kleinkinder an die Flut verloren. Um diese Lücke schnell zu schließen, benötigten wir rasch viele Embryonen. Das wurde jedoch nur erreicht, wenn mehr Blühende früher ins Paradies eingehen würden. Stattdessen aber sollte deren Lebenszeit gerade um weitere Jahre verlängert werden, weil jeder Einzelne für den Wiederaufbau gebraucht wurde.
Nach langen Diskussionen setzte sich im Großen Rat die Meinung durch, die Lebenszeit sollte zunächst nicht verlängert, sondern gekürzt werden. Der Nachwuchs, und der sei langfristig am wichtigsten, ließe sich nur vermehren, wenn ein Teil der Jüngeren bereit sei, gemeinsam mit den Dahinscheidenden die letzte Lust zu erfahren.
Wie aber sollte das vor sich gehen? Sollte der Rat die Todeskandidaten bestimmen und, wenn ja, nach welchen Kriterien? Mit Freiwilligen war wohl kaum zu rechnen. Welcher Blühende wäre schon bereit, verfrüht aus dem Leben zu scheiden? Vor allem jetzt, nachdem sie die grauenhafte Fratze des Todes mit eigenen Augen geschaut hatten, die aufgedunsenen Leiber der Wasserleichen, den klebrig süßen Gestank des faulenden Fleisches. Da war keine Spur von paradiesischem Heimgang, von letzter Lust und glückseligen Wonnen.
Arm ist, wer den Tod fürchtet, aber noch ärmer ist, wer ihn sich wünscht. Von Gemora, wo das Seebeben am ärgsten gehaust hatte, wurde berichtet, eine Gruppe Korallingießer sei gemeinsam in den Tod gegangen. Sie hätten sich die Pulsadern zerschnitten und Schierlingssaft getrunken. Verzweiflungstaten, die noch vor Kurzem unvorstellbar gewesen wären.
»Menschen, die nie erwachsen werden, verfügen über beneidenswerte leibliche Gesundheit«, sagte die Magna Mater, »aber ihre Kinderseelen sind so verletzlich wie Schmetterlingsflügel. Alles muss unternommen werden, um ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen. Das geschieht am wirkungsvollsten durch Arbeit. Und es gibt fürwahr genug zu tun. Wer eine Aufgabe zu bewältigen hat, findet keine Zeit, mit seinem Schicksal zu hadern.«
Wurde das Korallin früher nur so nebenbei gewonnen, wobei der größte Teil des Tages der Schönheitspflege, dem Spiel und dem Tanz gehörte, wurde nun der so dringend benötigte »Stoff aller Stoffe« in Tag-und-Nachtarbeit produziert. Vorbei waren die sorglosen Tage in der Mondfischbucht.
Große Katastrophen zerstören nicht nur Menschenleben, sie verändern auch die Gesellschaft der Überlebenden. So wie die Pest im christlichen Mittelalter die Neuzeit gebar, so kündigten sich auch in unserer Inselwelt beunruhigende Veränderungen an. Hieß es gestern noch: Fortschritt ist Sünde, so galt nun: Vieles muss sich ändern, damit die Dinge so bleiben, wie sie sind.
Wir sahen darin noch keinen Widerspruch, denn Veränderungen fanden ja nur statt, damit alles beim Alten bliebe. Aber dennoch veränderte sich unser aller Leben.
Die Arbeit – wie stolz waren wir darauf gewesen, diese Geißel der alten Menschheit abgeschafft zu haben! Und nun gewann sie mehr und mehr Gewalt über uns.
Besonders die Landwirtschaft erforderte unseren ganzen Einsatz. Den grünen Inseln hatte die Flut schlimme Schäden zugefügt. Nicht nur Menschen und Tiere, auch die Äcker waren stellenweise davongeschwemmt worden. Es würde viele Jahre dauern, bis all die fruchttragenden Bäume wieder herangewachsen waren, die Kokospalmen, Mangos, Orangen und Avocados, ganz zu schweigen von den alten Nussbäumen. Der größte Teil der Ernte war samt Saat verloren. Eine Hungersnot drohte.
Von den Pavianen wissen wir,
Weitere Kostenlose Bücher