Maienfrost
von dem Mord an einer jungen, bisher noch nicht identifizierten Frau berichtete. Um die Personendaten der Toten festzustellen, bat die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe. Der Beschreibung nach war das Opfer, dessen Größe mit einssechzig angegeben wurde, zierlich. Ihr schwarzes Haar und ihr gebräunter Teint ließen auf eine südländische Herkunft schließen.
Der Artikel verriet jedoch nichts über die näheren Umstände, unter denen sie aufgefunden wurde. Henning wusste, dass diese Vorgehensweise typisch für das Anfangsstadium der polizeilichen Ermittlungsarbeit war. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, was geschah, wenn der Fall erst von Vertretern der Regenbogenpresse aufgegriffen wurde. Schließlich befand die Branche sich wieder einmal im alljährlich gefürchteten Sommerloch. Da wurde jede ansonsten noch so unbedeutende Kleinigkeit ausgeschlachtet. Dieser Mord würde für die Klatschspalten diverser Zeitschriften das gefundene Fressen sein. Die fehlenden Hintergründe der Tat würden, sofern die Polizei ihre Strategie des Stillschweigens beibehielt, einfach durch zumeist unhaltbare Spekulationen ersetzt. Henning wusste aus eigener Erfahrung, wie schädlich sich dieser Sensationsjournalismus auf die Ermittlungsarbeit auswirken konnte.
Peer tat ihm schon jetzt Leid. Gleichzeitig wünschte er sich, ihm hellen zu können. Nach vierzig Jahren Dienst bei der Polizei war es nur natürlich, dass der Fall sein Interesse erweckte.
Mit nur schwer zu unterdrückender Ungeduld wartete Henning darauf, dass der Freund sich melden möge, um mit ihm über das, was nicht in der Zeitung stand, zu reden.
Bis zum Abend des darauf folgenden Tages hatte er jedoch noch nichts von ihm gehört. Erst als er sich zu bereits vorgerückter Stunde mit Pfeife und Tabaksbeutel ausgerüstet auf der Gartenbank vor seinem Haus niederlassen wollte, sah er Peer in der Dämmerung auf sich zu kommen. Er sah müde und erschöpft aus. Im Zwielicht wirkte sein Gesicht aschfahl. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich neben Henning, zog eine Packung F6 aus seiner Hosentasche, riss sie mit fahrigen Händen auf und zündete sich eine Zigarette an. Begierig nahm er mehrere tiefe Züge.
Um das auf ihnen lastende Schweigen zu brechen, fragte Henning: »Ich dachte du hättest dir das Rauchen abgewöhnt?«
»Das dachte ich auch«, gestand Peer.
»Es ist wegen dieser Toten, die ihr im Jasmund gefunden habt, stimmt’s«, mutmaßte Henning.
»So was geht einem ganz schön an die Nieren.«
Peer nickte geistesabwesend. »Obwohl ich schon viel Schreckliches gesehen habe, ist mir so etwas Grauenvolles bisher noch nicht untergekommen. Ich kann ihren Anblick einfach nicht vergessen. Wenn ich daran denke, wie sie da lag, so jung und unschuldig, dann bekomme ich gleich wieder weiche Knie. Ich hätte besser einen anderen Beruf ergreifen sollen.«
»Ging wohl jedem von uns schon einmal so«, versuchte Henning ihn zu trösten. »Bei meinem ersten Toten damals hätte ich auch am liebsten alles hingeschmissen und Reißaus genommen. Der Kerl hatte sich aufgeknüpft. Sein Anblick traf mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Er hing am Ast einer alten Eiche. Wir durchkämmten damals ein Waldgebiet mit Hunden nach dem Vermissten und ausgerechnet ich, der ich damals noch nicht einmal zwei Wochen meinen Dienst versah, musste ihn finden. Das grässliche Bild der schon verwesenden Leiche hab ich heute noch im Kopf. Jeder von uns muss auf seine Art und Weise versuchen damit fertig zu werden.«
Verständnisvoll legte Henning seinem jungen Kollegen den Arm um die Schulter. »Willst du darüber sprechen?«, fragte er behutsam.
Nach einem weiteren tiefen Zug fasste Peer die Geschehnisse der letzten beiden Tage zusammen. Er begann mit dem Fund der Leiche und beschrieb seinen ersten Eindruck. Dann berichtete er von der Art der ihr zugefügten Verletzung bis hin zur Kleidung die sie trug. Als er auf die von ihren Händen umschlungene weiße Lilie zu sprechen kam, unterbrach ihn Henning. Er schien verwundert. »Eine weiße Lilie?«, vergewisserte er sich. Peer nickte. »Was ist daran so ungewöhnlich?«, wollte er wissen.
Anstatt seine Frage zu beantworten, bat Henning ihn um einen Gefallen: »Ihr habt doch sicher Bilder vom Tatort gemacht. Bilder, auf denen auch diese Lilie zu sehen ist. Kannst du mir eins davon besorgen? Keine Angst, ich will es nicht behalten, nur mal einen Blick drauf werfen.«
Peer wand sich verlegen. »Du weißt, dass mir das strengstens verboten
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