Maienfrost
ist. Ich bin zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Ich will mir lieber nicht vorstellen, welche Konsequenzen es für mich hätte, wenn einer meiner Kollegen oder Vorgesetzen davon Wind bekäme, dass ich dich eingeweiht habe. Wenn du von mir erwartest, dass ich meinen Kopf für dich hinhalte, dann musst du mir schon erst mal erklären, was es mit dieser Blume auf sich hat.«
Doch Henning hüllte sich in Schweigen. »Besorg mir einfach eines der Tatortfotos. Sollte sich mein Verdacht bestätigen, bist du der Erste, der davon erfährt.«
Schon am Vormittag des nächsten Tages erhielt Henning, wonach er verlangt hatte. In eine Staubwolke gehüllt, kam ein Dienstwagen der Polizei mit quietschenden Bremsen vor seinem Grundstück zum Stehen. Peer, der am Steuer saß, stieg aus und hastete zum Haus. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Als sein Freund ihm die Tür öffnete, ging sein Atem noch immer stoßweise. Anstatt etwas zu sagen, zog Peer eine Fotografie aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte sie Henning. Dieser warf einen kurzen Blick darauf.
»Und«, fragte Peer. »Was ist nun mit der Lilie? Hat sich dein Verdacht bestätigt?«
Henning schien noch zu überlegen. »Ich glaube schon«, entgegnete er vage. Seine nächste Frage kam übergangslos; »Hast du schon mal was vom Theatersommer am Kap gehört?«
»Von was?«, vergewisserte sich Peer verwundert.
»Ich rede von dieser Schauspieltruppe, die oben am Kap auftritt. Ich habe mir erst kürzlich eine ihrer Aufführungen angesehen: Shakespeares ›Romeo und Julia‹. Und nun, nachdem ich mir das Foto betrachtet habe, drängen sich mir gewisse Parallelen auf«, fügte Henning unumwunden hinzu. »Die Aufnahme scheint meinen Verdacht zu bestätigen. Diese Frau hier«, dabei tippte er auf das Bild, »die Art wie sie daliegt; im Brautkleid und mit dieser Lilie in der Hand erinnert mich an Julia in der Gruft der Capulets.«
»An wen?«, hakte Peer nach, den allmählich das Gefühl beschlich, Henning könne die Sonne geschadet haben. »Ich verstehe nicht, was eine Theateraufführung mit unserem Fall gemeinsam haben könnte …«
»Wenn du das Stück gesehen hättest, wüsstest du wovon ich rede. Du solltest es dir bei Gelegenheit einmal anschauen. Aber das ist es nicht, was ich meine. Mein Interesse gilt in erster Linie dieser Lilie. Du musst wissen«, fügte er hinzu, als er Peers skeptische Miene bemerkte, »dass ich nach der Vorstellung ungewollt Zeuge eines an sich banalen Gesprächs wurde. Als einer der letzten Zuschauer, die das Gelände verließen, kam ich an einem Gebäude vorbei, dessen offene Fenster hell erleuchtet waren. Die Räumlichkeiten ließen mich vermuten, dass es sich um die Garderobe der Schauspieler handelte. Zwei Männer, mir abgewandt, standen inmitten des Zimmers. Die Lautstärke, mit der sie sich unterhielten, machte mich unbeabsichtigt zum Lauscher. Es ging um drei fehlende Lilien, die Bestandteil der Bühnendekoration waren. Weil diese äußerst spärlich ausfiel, erinnerte ich mich sogleich wieder an besagte Blumen. Sie dienten als Kulisse zu Romeos in Julias Bett verbrachter Nacht. Es waren weit mehr als nur drei Stück. Sie bestanden aus Kunststoff und glichen«, dabei zeigte er auf die Fotografie in seiner Hand, »dieser hier in verblüffender Weise. Ich kann mich zwar auch täuschen«, räumte Henning ein, »trotzdem würde ich dir empfehlen, dieser Spur nachzugehen.«
Peer sah ihn verblüfft an. »Du meinst also«, fasste er zusammen, »dass diese Blume hier eine von insgesamt drei gestohlenen Lilien sein könnte, die ursprünglich als Bühnendekoration für ein Theaterstück dienten?« Henning nickte.
Peers Anruf ein paar Stunden später bestätigte ihm, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die entwendeten Plastiklilien stimmten zweifelsfrei mit jener überein, welche die Tote in ihren Händen hielt. Es schien also tatsächlich ein Zusammenhang zu bestehen. Aber welcher? Inzwischen, das wusste Henning von Peer, hatte die Polizei auch die Identität der Ermordeten herausgefunden. Sie hieß Lea Goldbach und war Jurastudentin mit Wohnsitz in Berlin. Ihre Semesterferien verbrachte sie damit, ihre Finanzen aufzubessern. Wie schon in den Jahren zuvor arbeitete sie als Aushilfskraft in einem der Inselhotels. Nachdem sie am Freitag, dem achtzehnten Juli, nicht zur Arbeit erschienen war, hatte einer ihrer Kollegen, ein Kellner namens Siegmar Schreiner, sie als vermisst gemeldet. Die Polizei bat ihn, die Leiche der Ermordeten zu
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