Maienfrost
identifizieren. Siegmar erkannte in der Toten eindeutig seine Kollegin wieder.
Nachdem feststand, wer die Frau war, fuhr Kommissar Boström noch einmal zum Kap, um sämtliche Mitglieder der Schauspielgruppe zu vernehmen. Er konfrontierte sie mit Lea Goldbachs Foto. Doch keiner der Anwesenden kannte die Frau, oder konnte sich darauf besinnen, sie schon einmal bei einer der Aufführungen gesehen zu haben. Die Spur der Lilien drohte in einer Sackgasse zu enden.
Peer Boström war ratlos wie selten zuvor. In der Hoffnung, einen weiteren dienlichen Tipp zu erhalten, entschloss er sich nach Feierabend dazu, seinem Freund, dem Kommissar, einen weiteren Besuch abzustatten. Der Hinweis mit den Blumen war schließlich von ihm gekommen.
Henning erwartete ihn bereits. Der Fall ließ auch ihn nicht mehr los. Obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, brannte er darauf, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Als Erstes erkundigte er sich danach, ob schon ein Obduktionsbericht vorläge. Doch Peer verneinte: »Wie es aussieht, müssen wir noch eine Weile darauf warten«, meinte er. »Dem Rechtsmediziner zufolge, gibt es da noch einige Ungereimtheiten.«
»Ungereimtheiten?«, hakte Henning nach. »Darf ich fragen, was du darunter verstehst?«
»Ich weiß nur, dass die durchgeführte Autopsie noch keinen Befund zur tatsächlichen Todesursache erbrachte.«
»Ich dachte, die wäre offensichtlich«, wunderte sich Henning, »man hat ihr schließlich die Kehle durchgeschnitten.«
»Das war auch meine erste Vermutung. Der zum Tatort gerufene Rechtsmediziner hingegen schien nicht davon überzeugt. Ihn irritierte das aus der Wunde ausgetretene Blut. Er befand, dass es für die vorliegende Verletzung zu wenig sei. Auch hielt er den Radius, in dem es sich verteilt hatte, für zu gering. Er meinte, wenn ihr bei lebendigem Leib die Kehle durchgeschnitten worden wäre, hätte das aus der Halsschlagader pulsierende Blut eine viel größere Fläche bedecken und in weit höherer Menge austreten müssen. Zudem kam es ihm reichlich seltsam vor, dass sie sich allem Anschein nach nicht zu wehren versuchte.«
»Das stimmt«, pflichtete Henning ihm bei. »Das ist mir auch aufgefallen. Wenn du mich fragst, lag sie da wie aufgebahrt. Es mag makaber klingen, aber sie wirkt wie ein Kunstwerk. Ihr Mörder hat anscheinend viel Zeit und Sorgfalt darauf verwendet, sie so zu platzieren. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass er uns damit eine Nachricht übermitteln wollte. Wie du ja bereits weißt, drängte sich mir beim Anblick von Lea Goldbachs Leiche, obwohl ich diese nur vom Foto her kenne, der Vergleich mit Shakespeares Julia auf. Ähnlich eines Déjà-vu-Erlebnisses, schwebt mir seither eine ganz bestimmte Stelle vor Augen. Weil mir die Angelegenheit keine Ruhe ließ, habe ich mir ein Exemplar von ›Romeo und Julia‹ gekauft. Nachdem ich es gelesen hatte, erinnerte ich mich wieder daran, dass die Passage, von der ich spreche, in der fünften Szene des vierten Aufzugs spielte. In ihr tritt Graf Capulet, Julias Vater, auf. Gramgebeugt steht er vor dem Lager seiner Tochter, von der er annimmt, sie sei tot. ›Der Tod liegt auf ihr, wie ein Maienfrost auf des Gefildes schönster Blume liegt‹, klagt er in seinem Schmerz. Nenn es Intuition, doch seit ich Leas Leichnam gesehen habe, spukt mir dieses Zitat samt dazugehöriger Szene im Kopf herum. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass mein Unterbewusstsein mir damit eine ganz bestimmte Botschaft zu übermitteln versucht …«
Peer hatte nachdenklich Hennings Worten gelauscht. »Von der Warte aus habe ich das Ganze noch gar nicht betrachtet«, gestand er, ohne dabei des alten Kommissars poetischer Randbemerkung Beachtung zu schenken. »Aber du könntest Recht haben. Auf alle Fälle geht der Pathologe davon aus, dass sie bewusstlos gewesen sein muss, als man sie getötet hat. Das war auch einer der Gründe, weshalb er sich dafür entschied, sie zu obduzieren. Bislang jedoch liegen uns noch keinerlei gesicherte Fakten zur Todesursache vor. Ich halte dich aber auf dem Laufenden. Sobald es etwas Neues gibt, melde ich mich bei dir.«
5
Am Montag, dem einundzwanzigsten Juli, rief Larissa Sommer, Inhaberin eines Selliner Brautmodengeschäfts, bei der Polizei an, um einen Einbruchdiebstahl in ihr Warenlager zur Anzeige zu bringen. Sie war übers Wochenende verreist und hatte daher erst bei ihrer Rückkehr vor wenigen Stunden den Schaden bemerkt. Ein zum Hof hin liegendes Toilettenfenster, das zu den
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