Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
Alkoholdunst verpestete dazu den ganzen Raum.
Man schien die Tür zur Nebenkabine, die als Schlafzimmer diente, in aller Hast geschlossen zu haben, denn Mrs. Wilcox hatte bei ihrer Flucht auf dem Fußboden einen Seidenpantoffel verloren.
»Verzeihen Sie bitte die Störung«, sagte Maigret höflich zu Philippe. »Sie waren wahrscheinlich gerade beim Frühstück.«
Ohne Ironie blickte er auf die halbgeleerten Flaschen mit englischem Bier, eine angebissene Brotscheibe und ein Stück Butter im Papier.
»Ist das eine Haussuchung?« fragte der junge Mann, während er sich mit der Hand durchs Haar fuhr.
»Das wird ganz von Ihrem Verhalten abhängen. Bis jetzt betrachte ich es als einen einfachen Besuch.«
»Um diese Zeit?«
»Um diese Zeit sind manche Leute schon müde.«
»Mrs. Wilcox pflegt immer spät aufzustehen.«
Man hörte sie hinter der Tür mit Wasser planschen. Philippe hätte sich gewiß gern auch etwas dezenter angezogen, aber er hätte es dann nicht verhindern können, daß sie die noch größere Unordnung in der zweiten Kabine sahen. Sein Pyjama war zerknittert, und er hatte keinen Morgenrock zur Hand. Mechanisch trank er einen Schluck Bier. Lechat, der auf Anweisung des Kommissars auf Deck geblieben war, beschäftigte sich mit den beiden Matrosen. Es waren keine Engländer, wie man hätte vermuten können, sondern Leute aus Nizza. Nach ihrem Akzent zu urteilen, waren sie italienischer Abstammung.
»Sie können sich setzen, Mr. Pyke«, sagte Maigret, da Philippe sie nicht dazu aufforderte.
Maigrets Großmutter ging immer zur ersten Messe um sechs Uhr morgens, und wenn man aufstand, war sie bereits im schwarzen Seidenkleid und trug eine weiße Haube auf dem Kopf. Im Herd brannte das Feuer, und auf einem gestärkten Tischtuch stand schon das Frühstück bereit.
Hier waren einige alte Frauen auch zur ersten Messe gegangen; andere überquerten jetzt schräg den Platz und gingen auf die offene Kirchentür zu, aus der Weihrauchduft herausströmte.
Mrs. Wilcox hatte bereits Bier getrunken, und jetzt am Morgen konnte man die weißen Wurzeln ihres gefärbten Haars sicherlich noch deutlicher sehen als sonst. Sie ging hinter der Wand hin und her, ohne ihrem Sekretär irgendwie helfen zu können.
Dieser wirkte mit seiner von Polytes Faustschlag leicht geschwollenen Wange wie ein schmollender Schüler. Denn so, wie es in jeder Klasse den dicken, einer Gummikugel nicht unähnlichen Jungen gibt, so gibt’s auch in allen den Schüler, der sich in den Pausen beleidigt in eine Ecke zurückzieht und von dem seine Kameraden sagen:
»Das ist ein blöder Kaffer.«
An den Wänden hingen Stiche, aber der Kommissar vermochte ihre Qualität nicht zu beurteilen. Einige waren etwas gewagt, ohne indessen die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten.
Mr. Pyke und er kamen sich ein wenig wie in einem Wartesaal vor, und der Engländer hielt seinen Strohhut auf den Knien.
Maigret zündete sich schließlich seine Pfeife an. »Wie alt ist Ihre Mutter, Monsieur de Moricourt?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Aus keinem besonderen Grund. Nach Ihrem Alter zu urteilen, dürfte sie etwa fünfzig sein.«
»Fünfundvierzig. Sie war noch sehr jung, als ich geboren wurde. Sie hat mit sechzehn geheiratet.«
»Mrs. Wilcox ist älter als sie, nicht wahr?«
Mr. Pyke senkte den Kopf. Man hätte glauben können, der Kommissar wolle absichtlich die Atmosphäre noch peinlicher machen. Lechat erging es da draußen besser. Er saß auf der Reling und schwatzte mit einem der beiden Matrosen, der sich in der Sonne die Nägel pflegte.
Endlich öffnete sich die Tür, Mrs. Wilcox erschien und schloß die Tür hastig hinter sich.
Sie hatte sich inzwischen angezogen und zurechtgemacht, aber trotz der dick aufgetragenen Schminke sah sie abgespannt aus, und ihre Augen gingen unruhig hin und her.
Es mußte ihr erbärmlich zumute sein, wenn sie schon am frühen Morgen trotz ihres Katers eine Flasche starkes Bier trank.
»Großmutter …«, dachte Maigret unwillkürlich. Er stand auf, verneigte sich und stellte seinen Begleiter vor.
»Vielleicht kennen Sie Mr. Pyke schon. Er ist Ihr Landsmann und gehört Scotland Yard an, ist aber nicht dienstlich hier. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie schon so früh störe, Mrs. Wilcox.« Sie war trotz allem die Frau von Welt geblieben, und mit einem raschen Blick belehrte sie Philippe, daß sein Aufzug ungehörig war.
»Gestatten Sie, daß ich mich anziehe?« murmelte er und sah den
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