Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
getan hatte, als er noch klein war und sein Vater ihn im Kahn über den Teich ruderte. Die Klänge der Glocken zogen noch immer ihre Kreise am Himmel.
9
Maigrets schlechte Schüler
Sie blieben vor dem Laden des Bürgermeisters stehen, wo Maigret den Schlüssel holen wollte. Der Bürgermeister, der gerade Kunden bediente, rief seiner Frau etwas zu. Sie war eine kleine, blasse Person mit einem straffen Haarknoten im Nacken. Während sie nach dem Schlüssel suchte, was eine ganze Zeit dauerte, stand Philippe zwischen Maigret und Mr. Pyke und machte ein verbissenes, beleidigtes Gesicht. Es war wieder eine Szene wie in der Schule: der bestrafte Schüler und der gestrenge, unerbittliche Lehrer.
Man hätte es nicht für möglich gehalten, daß die ›Cormoran‹ so viele Leute befördern konnte. Allerdings hatten auch noch andere Schiffe an diesem Morgen die überfahrt gemacht. Bis die Touristen sich am Strand verteilt hatten, bot der Platz geradezu den Anblick einer Völkerwanderung.
Vor dem im Schatten liegenden Konsum sah man Anna in ihrem Pareo, ein Einkaufsnetz in der Hand, während van Greef mit Chariot auf der Terrasse der ›Arche‹ saß.
Die beiden hatten Philippe zwischen den Polizeibeamten vorbeikommen sehen und ihnen lange nachgeblickt. Sie waren frei, saßen an einem Tischchen und hatten eine Weinflasche vor sich stehen.
Maigret hatte leise ein paar Worte zu Lechat gesagt, der dann etwas zurückgeblieben war.
Endlich brachte die Frau des Bürgermeisters den Schlüssel, und kurz darauf öffnete Maigret die Tür zur Bürgermeisterei, wo er des modrigen Geruchs wegen sofort das Fenster aufriß.
»Setzen Sie sich, Moricourt.«
»Ist das ein Befehl?«
»Ja, genau das.«
Er schob ihm einen der Klappstühle zu, die bei den Feiern am 14. Juli benutzt wurden. Mr. Pyke schien gemerkt zu haben, daß der Kommissar es unter diesen Umständen nicht gern sah, wenn die Leute standen, denn er klappte ebenfalls einen Stuhl auf und setzte sich in eine Ecke.
»Sie haben mir wohl nichts zu sagen?«
»Bin ich verhaftet?«
»Ja.«
»Ich habe Marcellin nicht umgebracht.«
»Sondern?«
»Nichts. Ich verweigere jede weitere Aussage. Sie können mich verhören, soviel Sie wollen, und all die widerlichen Mittel anwenden, mit denen Sie die Leute zum Sprechen bringen. Ich werde nichts sagen.«
Wie ein bockiger Junge! Wohl wegen seines Benehmens vorhin konnte Maigret ihn nicht mehr ernst nehmen: War das überhaupt ein Mann?
Der Kommissar setzte sich nicht. Er ging hin und her, stieß dabei an eine aufgerollte Fahne oder die Büste der Republik, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und sah weißgekleidete kleine Mädchen unter der Aufsicht von zwei Schwestern in Flügelhauben draußen vorüberziehen. Es war also doch gar nicht so falsch gewesen, daß er heute morgen an Erstkommunikantinnen hatte denken müssen.
Die Inselbewohner trugen heute saubere dunkelblaue Leinenhosen, deren Farbe in der Sonne besonders kräftig wirkte, und ihre weißen Hemden blitzten geradezu. Man begann schon wieder Boule zu spielen. Monsieur Emil ging mit trippelnden Schritten zur Post.
»Sie sind sich wohl darüber klar, daß Sie ein Lump sind?«
Maigret stand jetzt dicht vor Philippe und blickte ihn drohend von oben bis unten an. Der junge Mann hob instinktiv die Hände, um sein Gesicht zu schützen.
»Ja, ein Lump, ein Lump, der Angst hat, der feige ist. Es gibt Leute, die brechen in Wohnungen ein und riskieren dabei immerhin etwas. Andere dagegen machen sich an alte Frauen heran, klauen ihnen wertvolle Bücher, die sie dann verkaufen, und wenn man sie schnappt, fangen sie an zu heulen, winseln um Vergebung und sprechen von ihrer armen Mutter.«
Es sah fast so aus, als ob Mr. Pyke sich so klein wie möglich machte und sich absichtlich nicht im geringsten rührte, um seinen Kollegen nur ja nicht zu stören. Man hörte ihn nicht einmal atmen, aber die Geräusche von draußen drängten durch das offene Fenster und vermischten sich seltsam mit der Stimme des Kommissars.
»Wer ist auf die Idee mit den gefälschten Bildern gekommen?«
»Ich werde erst im Beisein eines Anwalts antworten.«
»Das heißt also, daß Ihre unglückliche Mutter bluten muß, um für Sie einen bekannten Verteidiger zu bezahlen. Denn solch einen Anwalt brauchen Sie, nicht wahr? Sie sind ein widerlicher Bursche, Moricourt!«
Er ging, die Hände auf dem Rücken, wieder hin und her und glich mehr denn je einem Lehrer.
»In der Schule hatte ich einen Mitschüler,
Weitere Kostenlose Bücher