Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
eingeschnappt, weil man ihn nicht davon verständigt hat, daß Pierrot aufgefunden worden ist.«
Niemand hatte an Janin gedacht, der weiterhin das Chapelle-Viertel durchsucht hatte, bis er aus den Zeitungen erfuhr, daß Maigret den Musiker verhört und wieder freigelassen hatte.
»Er fragt, ob er ihn im Auge behalten soll.«
»Das ist nicht mehr nötig. Sonst noch etwas?«
Lucas wollte gerade antworten, als das Telefon läutete. Maigret nahm den Hörer.
»Kommissar Maigret am Apparat«, sagte er und runzelte die Brauen.
Lucas wußte sofort, daß das wichtig war.
»Hier spricht Etienne Gouin«, kam es vom anderen Ende der Leitung zurück.
»Was wünschen Sie?«
»Ich habe erfahren, daß Sie soeben meine Assistentin verhört haben.«
Lucile Decaux hatte also sofort ihren Chef angerufen, um ihm Bericht zu erstatten.
»Das stimmt.«
»Ich hätte es korrekter gefunden, wenn Sie Auskünfte über mich direkt bei mir eingeholt hätten.«
Lucas hatte den Eindruck, daß Maigret ein wenig unsicher wurde und sich bemühen mußte, kaltes Blut zu bewahren.
»Das ist Ansichtssache«, erwiderte er trocken.
»Sie wissen, wo ich wohne?«
»Gut, ich komme zu Ihnen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es jetzt still. Der Kommissar hörte undeutlich eine Frauenstimme. Wahrscheinlich die Stimme von Madame Gouin, die etwas zu ihrem Mann sagte, worauf dieser fragte:
»Wann?«
»In ein- bis eineinhalb Stunden. Ich habe noch nicht gegessen.«
»Ich erwarte Sie.«
Er hängte ein.
»Der Professor?« erkundigte sich Lucas. Maigret nickte.
»Was will er?«
»Er möchte verhört werden. Bist du frei?«
»Soll ich Sie begleiten?«
»Ja. Vorher gehen wir noch einen Happen essen.«
Sie aßen in der Brasserie Dauphine, an dem Tisch, an dem Maigret so oft gesessen hatte, daß man ihn den Maigret-Tisch nannte. Während der ganzen Mahlzeit sprach Maigret kein Wort.
8
Während seiner Laufbahn hatte Maigret Tausende, ja Zehntausende von Menschen verhört. Darunter hatten manche beachtlich hohe Stellungen innegehabt; andere waren durch ihren Reichtum berühmt geworden, und wieder andere hatten zu den intelligentesten unter den internationalen Verbrechern gezählt.
Und doch hatte dieses Verhör für ihn größere Bedeutung als irgendeines zuvor. Dabei war es nicht Gouins gesellschaftliche Stellung, die ihn beeindruckte, und auch nicht der Ruhm, den er in der ganzen Welt genoß.
Er fühlte, daß sich Lucas seit Beginn der Untersuchung fragte, warum er dem Professor nicht einfach ein paar präzise Fragen stellte. Auch jetzt war der gute Lucas von der Laune seines Chefs verwirrt.
Maigret konnte ihm die Wahrheit nicht gestehen. Ihm nicht und auch sonst niemandem, selbst seiner Frau nicht. Im Grunde wagte er es nicht einmal, sie in Gedanken klar zur formulieren.
Was er von Gouin wußte, was er über ihn erfahren hatte, beeindruckte ihn, das mußte er zugeben. Aber den Grund dafür hätte wahrscheinlich niemand zu erraten vermocht.
Wie der Professor war auch Maigret in einem kleinen Dorf in Mittelfrankreich geboren, und wie der Professor war auch er früh sich selbst überlassen worden.
Hatte nicht auch Maigret angefangen, Medizin zu studieren? Hätte er sein Studium fortsetzen können, wäre er wahrscheinlich nicht Chirurg geworden. Dazu hatte ihm die nötige manuelle Geschicklichkeit gefehlt. Trotzdem hatte er den Eindruck, daß zwischen ihm und Lulus Geliebtem eine gewisse Ähnlichkeit bestand.
Er wußte, das war dünkelhaft von ihm, und deshalb zog er es vor, nicht weiter daran zu denken. Es schien ihm, daß sie beide ungefähr dieselbe Kenntnis von den Menschen und vom Leben besaßen.
Aber: nicht ganz die gleiche und vor allem nicht die gleichen Reaktionen. Sie waren eher Gegensätze – aber gleichwertige Gegensätze.
Was er von Gouin wußte, hatte er den Äußerungen und der Haltung von fünf verschiedenen Frauen entnommen. Davon abgesehen hatte er ihn nur einmal flüchtig auf dem Gehsteig in der Avenue Carnot gesehen und auf einem Foto, das über einem Kamin gehangen hatte. Am aufschlußreichsten war zweifellos Janins kurze Schilderung von seinem plötzlichen Auftauchen in Lulus Wohnung gewesen.
Es würde sich jetzt herausstellen, ob er sich täuschte. Er hatte sein Möglichstes getan, um sich vorzubereiten, und wenn er Lucas mitnahm, so nicht deshalb, weil er seinen Beistand brauchte, sondern um der Unterredung einen offizielleren Charakter zu geben. Vielleicht aber auch, um sich selbst daran zu erinnern, daß er
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