Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
nüchtern gewesen. Sie bleiben hier? Dann möchte ich wetten, daß Sie Maler sind! Die kommen gelegentlich und malen hier ihre Skizzen. Schauen Sie, dort über der Theke hängt mein Porträt, das stammt auch von einem dieser Maler.«
Aber der Kommissar zeigte so wenig Interesse an dem Geschwätz, daß der Wirt, der aus diesem Verhalten nicht klug wurde, schließlich ging.
»Gebt mir ein bronzenes Zweisoustück! Wer hat ein bronzenes Zweisoustück?« rief ein Seemann, der nicht größer und nicht kräftiger als ein Sechzehnjähriger war.
Er hatte ein altes Gesicht mit unregelmäßigen Zügen. Ein paar Zähne fehlten ihm. Seine Augen glänzten vor Trunkenheit, und ein drei Tage alter Bart wucherte über den Wangen.
Man gab ihm eine Münze. Er nahm sie in die Finger und drückte sie zusammen, dann steckte er sie zwischen die Zähne und biß sie durch.
»Wer macht mir das nach?«
Er zog eine Schau ab. Er fühlte, daß er der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit war, und er war imstande, Gott weiß was anzustellen, um es zu bleiben. Und als ein dicker Mechaniker nach einer Münze langte, kam er ihm zuvor:
»Warte! Das hier mußt du auch können!«
Er nahm ein leeres Glas, biß kräftig hinein und kaute auf den Scherben, wobei er das zufriedene Gesicht eines Feinschmeckers aufsetzte.
»Ha! Das macht mir erst mal nach! Bring zu trinken, Léon!«
Beifallheischend schaute er in die Runde, bis sein Blick an Maigret hängenblieb. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
Einen Augenblick lang schien er völlig fassungslos. Doch dann ging er auf Maigret zu. Er war so betrunken, daß er sich auf einen Tisch stützen mußte.
»Sind Sie meinetwegen hier?« fragte er aggressiv.
»Sachte, P’tit Louis!«
»Immer noch die Geschichte mit der Brieftasche? Hört mal her, Freunde! Vorhin, als ich euch von meinen Erlebnissen in der Rue de Lappe erzählte, wolltet ihr mir nicht glauben! Nun, hier sitzt ein hoher Kriminaler, der sich extra wegen mir hierherbemüht! Erlauben Sie, daß ich noch einen trinke?«
Alle beobachteten jetzt Maigret.
»Setz dich, P’tit Louis! Spiel nicht den Dummen!«
Der andere lachte laut auf.
»Gibst einen aus? Nein! Das ist doch nicht möglich! Freunde! Der Kommissar spendiert mir ein Glas! Einen Dreifachen, Léon!«
»Warst du auf der ›Océan‹?«
Ein sichtbarer Wandel. P’tit Louis’ Gesicht verfinsterte sich so sehr, daß man glauben konnte, er sei plötzlich wieder nüchtern. Mißtrauisch wich er ein Stück auf der Bank zurück.
»Und wenn?«
»Nichts! Auf dein Wohl! Bist du schon lange betrunken?«
»Wir feiern seit drei Tagen. Na, seit wir wieder an Land sind. Ich habe Léon mein Geld gegeben. Neunhundert Francs und ein paar Krumme! Solange noch was übrig ist … Léon, alter Gauner, wieviel habe ich noch?«
»Bestimmt nicht genug, um bis morgen früh ganze Runden zu spendieren! Du hast noch etwa fünfzig Francs. Ist das nicht ein Jammer, Herr Kommissar? Morgen wird er nicht einen Sou mehr haben, und es wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich auf irgendeinem Schiff wieder als Kohlentrimmer anheuern zu lassen. Und es ist jedesmal dasselbe! Sie müssen wissen, daß ich ihn keineswegs zum Trinken ermutige. Im Gegenteil!«
»Halt’s Maul!«
Bei den anderen war’s vorbei mit der ausgelassenen Stimmung. Sie sprachen leise miteinander und wandten sich immer wieder nach dem Tisch des Kommissars um.
»Sind die alle von der ›Océan‹?«
»Außer dem Dicken mit der Schirmmütze, der ist Lotse. Und der Rothaarige ist Schiffszimmermann.«
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Ich habe nichts zu sagen.«
»Vorsicht, P’tit Louis! Vergiß nicht den Streich mit der Brieftasche damals, als du an der Bastille als Glasfresser aufgetreten bist.«
»Ich würde keinesfalls mehr als drei Monate bekommen, und ich hätte sowieso ein bißchen Ruhe nötig. Wenn Ihnen danach ist, können wir sofort aufbrechen.«
»Du hast im Maschinenraum gearbeitet?«
»’türlich! Wie immer. Ich war zweiter Heizer.«
»Hast du den Kapitän oft gesehen?«
»Im ganzen vielleicht zweimal.«
»Und den Funker?«
»Weiß nicht.«
»Léon! Füllen Sie die Gläser!«
P’tit Louis lachte verächtlich.
»Und wenn ich mich zu Tode besaufe, ich werde Ihnen trotzdem nicht sagen, was Sie hören wollen. Aber da Sie nun schon mal hier sind, könnten Sie meinen Freunden auch eine Runde spendieren. Nach einer so verfluchten Fahrt wie dieser …«
Ein kaum zwanzig Jahre alter Seemann kam an den Tisch
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