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Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Titel: Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ist nicht mitgekommen. Aber auch sie glaubt nicht daran, daß du schuldig bist.«
    Dem Mädchen gelang es ebenfalls nicht, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das Ganze glich einer mißlungenen Theaterszene; lag es vielleicht an der bedrückenden Gefängnisatmosphäre?
    Sie blickten sich an, wußten nicht, was sie sich sagen sollten, suchten nach Worten. Schließlich deutete Marie Léonnec auf Maigret.
    »Das ist ein Freund von Jorissen. Er ist Kommissar bei der Kriminalpolizei und hat sich bereit erklärt, uns zu helfen.«
    Le Clinche wollte schon die Hand ausstrecken, wagte es dann aber doch nicht.
    »Danke. Ich …«
    Es ging auf der ganzen Linie schief; das Mädchen wurde sich dessen bewußt und war den Tränen nahe. Hatte sie nicht auf ein rührendes Wiedersehen gehofft, das Maigret überzeugen würde?
    Sie sah ihren Verlobten unwillig an, sogar eine Spur von Ungeduld lag in ihrem Blick.
    »Du mußt ihm alles sagen, was für deine Verteidigung nützlich sein kann.«
    Pierre Le Clinche seufzte müde und unbeholfen.
    »Ich habe Ihnen nur wenige Fragen zu stellen«, schaltete sich der Kommissar ein. »Die ganze Besatzung sagt übereinstimmend aus, daß Ihre Beziehungen mit dem Kapitän während der Fahrt mehr als frostig gewesen sind. Dabei hatten Sie sich, als Sie ausliefen, noch ganz gut verstanden. Was also hat diese Veränderung hervorgerufen?«
    Der Funker öffnete den Mund, schloß ihn wieder und starrte betrübt auf den Boden.
    »Gab es dienstliche Differenzen? An den beiden ersten Tagen haben Sie mit dem Ersten Offizier und dem Chefmaschinisten gegessen. Danach haben Sie es vorgezogen, Ihre Mahlzeiten mit der Mannschaft einzunehmen.«
    »Ja. Ich weiß.«
    »Warum?«
    Marie Léonnec riß die Geduld.
    »Aber so sprich doch, Pierre! Man will dich doch retten! Du mußt die Wahrheit sagen!«
    »Ich weiß nicht.«
    Er war so gleichgültig, so apathisch, als hätte er alle Hoffnung verloren.
    »Haben Sie mit Kapitän Fallut eine Auseinandersetzung gehabt?«
    »Nein.«
    »Und dennoch haben Sie während der drei Monate, die Sie zusammen auf dem Schiff lebten, kein einziges Wort miteinander gewechselt. Alle haben es bemerkt. Manche tuscheln darüber, daß Fallut zeitweilig wie ein Verrückter schien.«
    »Ich weiß nicht.«
    Marie Léonnec unterdrückte mühsam ein Schluchzen.
    »Als die ›Océan‹ in den Hafen zurückkehrte, gingen Sie mit den Männern an Land. In Ihrem Hotelzimmer haben Sie Papiere verbrannt.«
    »Ja. Das ist unwichtig.«
    »Sie haben die Gewohnheit, alles, was Sie sehen, in einem Heft niederzuschreiben. War es nicht das Tagebuch dieser Fahrt, das Sie verbrannt haben?«
    Er stand mit gesenktem Kopf da und sah aus wie ein Schuljunge, der seine Lektion nicht gelernt hat und nun verstockt auf den Boden starrt.
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht mehr!«
    »Und Sie wissen auch nicht mehr, warum Sie an Bord zurückgegangen sind? … Nicht gleich! Sie sind gesehen worden, wie Sie sich hinter einem Waggon versteckten, der fünfzig Meter vom Schiff entfernt stand.«
    Das Mädchen schaute den Kommissar an, dann ihren Verlobten, dann wieder den Kommissar, und sie begann unsicher zu werden.
    »Ja.«
    »Der Kapitän kam den Landesteg herunter, trat auf den Kai … Und in diesem Augenblick wurde er überfallen.«
    Le Clinche schwieg.
    »So antworten Sie doch, verflucht noch mal!«
    »Ja, Pierre! Antworte! Es geht um deine Rettung! Ich verstehe nicht … Ich …«
    Tränen schwammen in ihren Augen.
    »Ja.«
    »Was ja?«
    »Ich war dort.«
    »Dann haben Sie also etwas gesehen?«
    »Nicht viel. Es standen so viele Fässer und Waggons dort … Zwei Männer kämpften miteinander, dann rannte einer von ihnen davon, und der andere fiel ins Wasser …«
    »Wie sah der Flüchtende aus?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Trug er Seemannskleidung?«
    »Nein.«
    »Also wissen Sie, was er anhatte?«
    »Mir sind nur die gelben Schuhe aufgefallen, als er an einer Gaslaterne vorbeilief.«
    »Was haben Sie dann getan?«
    »Ich bin an Bord gegangen.«
    »Warum? Und warum sind Sie dem Kapitän nicht zu Hilfe gekommen? Wußten Sie, daß er bereits tot war?«
    Drückendes Schweigen. Marie Léonnec preßte in ihrer Angst die Hände zusammen.
    »Sprich doch, Pierre! Sprich, ich flehe dich an!«
    Im Flur wurden Schritte laut. Der Gefängniswärter kam herein und sagte, daß Le Clinche vom Untersuchungsrichter erwartet würde.
    Seine Braut wollte ihn küssen. Er zögerte. Schließlich nahm er sie langsam, mit nachdenklichem

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