Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Boden. Die anderen traten zur Seite.
Es war Maigret, der die beiden trennte, indem er sie buchstäblich hochhob, mit jeder Hand einen.
»Was soll das! Wollt ihr euch die Köpfe einschlagen?«
Es geschah ganz schnell: Der Bretone, der die Hände frei hatte, zog ein Messer aus seiner Tasche. Aber der Kommissar sah es gerade noch rechtzeitig und versetzte ihm einen Fußtritt, der ihn zwei Meter weit weg beförderte. Er blutete am Kinn, wo ihn der Schuh getroffen hatte. Da warf sich P’tit Louis, immer noch betrunken und wackelig auf den Beinen, über seinen Kameraden, fing an zu heulen und bat ihn um Verzeihung.
Léon trat zu Maigret und zeigte auf seine Uhr.
»Es ist Zeit zu schließen. Ich möchte nicht, daß die Polizei auftaucht. Jeden Abend dasselbe Theater! Ich kriege sie einfach nicht raus aus dem Laden!«
»Schlafen sie auf der ›Océan‹?«
»Ja, wenn sie nicht, wie das gestern zweien von ihnen passiert ist, in der Gosse einschlafen. Als ich heute morgen die Fensterläden aufschlug, habe ich sie dort gefunden!«
Die Kellnerin räumte die Gläser von den Tischen. In Dreier- und Vierergruppen gingen die Männer hinaus. Nur P’tit Louis und der Bretone rührten sich nicht vom Fleck.
»Möchten Sie ein Zimmer?« fragte Léon Maigret.
»Nein, danke. Ich wohne im Hôtel de la Plage.«
»Sagen Sie mal …«
»Was?«
»Nicht daß ich Ihnen einen Rat geben möchte. Es geht mich nichts an. Aber … der Funker war recht beliebt bei allen. Es wäre vielleicht angebracht, etwas für ihn zu tun. Wie heißt es doch in den Romanen? – Che r chez la femme! Ich habe da allerlei flüstern gehört …«
»Hatte Pierre Le Clinche eine Geliebte?«
»Der? Oh nein! Er hatte eine Verlobte in seinem Dorf und er schickte ihr jeden Tag einen sechs Seiten langen Brief.«
»Wer dann?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es komplizierter, als man denkt. Außerdem …«
»Außerdem was?«
»Nichts. Sei vernünftig, P’tit Louis! Geh schlafen!«
Aber P’tit Louis war zu betrunken. Er jammerte vor sich hin, drückte seinen Kameraden an sich, dessen Kinn immer noch blutete, und bat ihn um Verzeihung.
Maigret ging hinaus. Es war kühl geworden, und so schlug er den Kragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. In der Halle des Hôtel de la Plage bemerkte er in einem Korbsessel ein junges Mädchen. Aus einem anderen Sessel erhob sich ein Mann und lächelte ihm etwas verlegen entgegen.
Es war Jorissen, der Lehrer aus Quimper. Fünfzehn Jahre hatte Maigret ihn nicht mehr gesehen, und der andere zögerte, ihn zu duzen.
»Entschuldigen Sie … Entschuldigen Sie mich … Wir, Mademoiselle Léonnec und ich, sind gerade angekommen … Ich habe in allen Hotels gesucht. Man hat mir gesagt, daß Sie … daß du bald zurückkehren würdest … Das ist die Verlobte von Pierre Le Clinche. Sie wollte unbedingt …«
Das Mädchen war groß, ein bißchen blaß und etwas schüchtern. Aber als Maigret ihr die Hand drückte, spürte er, daß sich unter ihrem Provinzgehabe und ihrer unbeholfenen Koketterie ein starker Wille verbarg.
Sie sagte nichts. Sie war beeindruckt. Und Jorissen ebenfalls, der ein einfacher Lehrer geblieben war und nun vor seinem früheren Schulkameraden stand, der einen der höchsten Posten bei der Kriminalpolizei innehatte.
»Man hat mir vorhin Madame Maigret im Salon gezeigt, aber ich habe nicht gewagt …«
Maigret musterte das Mädchen. Sie war nicht gerade hübsch, aber auch nicht häßlich. Ihre Schlichtheit hatte etwas Rührendes.
»Sie wissen, daß er unschuldig ist, nicht wahr?« sagte sie schließlich, ohne dabei jemanden anzusehen.
Der Portier wartete darauf, sich wieder hinlegen zu können. Er hatte schon seine Weste aufgeknöpft.
»Das werden wir morgen sehen. Habt ihr schon ein Zimmer?«
»Ich habe das Zimmer neben Ihn … neben dir«, stammelte der Lehrer aus Quimper verwirrt. »Mademoiselle Léonnec schläft eine Etage höher. Ich muß morgen wieder abreisen, wegen der Examen. Glaubst du …«
»Morgen! Wir werden sehen!« sagte Maigret noch einmal.
Als er zu Bett ging, murmelte seine Frau im Halbschlaf:
»Vergiß nicht, das Licht auszumachen.«
2.
Die gelben Schuhe
Sie gingen Seite an Seite, ohne sich anzusehen, spazierten erst am Strand entlang, der zu dieser Stunde leer war, dann an den Kais.
Und allmählich kamen sie ins Gespräch. Es gelang Marie Léonnec, in einem fast natürlichen Ton zu reden.
»Sie werden feststellen, daß er Ihnen auf Anhieb sympathisch ist! Es kann
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