Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Gesicht in die Arme.
Er küßte sie nicht auf den Mund, sondern auf die kurzen, lockigen Haare an ihren Schläfen.
»Pierre!«
»Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er düster und folgte dann müde dem Gefängniswärter.
Maigret und Marie Léonnec gingen schweigend hinaus. Draußen seufzte sie bekümmert:
»Ich verstehe es nicht … Ich …«
Aber dann hob sie den Kopf.
»Er ist trotzdem unschuldig, ich bin dessen sicher! Wir verstehen das nicht, weil wir nie in einer solchen Situation gewesen sind. Drei Tage ist er jetzt im Gefängnis, und alle beschuldigen ihn. Und er ist so schüchtern!«
Maigret war gerührt von ihrer Anstrengung, ihren Worten Kraft zu verleihen, während sie in Wirklichkeit doch völlig entmutigt war.
»Sie werden trotz allem etwas tun, nicht wahr?«
»Unter der Bedingung, daß Sie nach Quimper zurückfahren.«
»Nein! Das tu ich nicht! Hören Sie! Erlauben Sie mir …«
»Na gut. Gehen Sie an den Strand. Setzen Sie sich zu meiner Frau und versuchen Sie, sich zu beschäftigen. Sie hat sicher irgendeine Handarbeit für Sie.«
»Was werden Sie machen? Glauben Sie, daß dieser Hinweis auf die gelben Schuhe …«
Man drehte sich nach ihnen um, denn Marie Léonnec sprach so lebhaft auf ihn ein, daß es aussah, als stritten sie sich.
»Ich sage Ihnen noch einmal, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht. Sehen Sie, diese Straße führt direkt zum Hôtel de la Plage. Sagen Sie meiner Frau, daß ich vielleicht ziemlich spät zum Essen komme.«
Und er machte kehrt und ging auf die Kais zu. Seine mürrische Miene war verschwunden. Er lächelte fast.
Er hatte befürchtet, in der Zelle eine stürmische Szene zu erleben, mit wilden Protesten, Tränen, Küssen. Aber es war anders gekommen, es war viel unkomplizierter, aber zugleich auch viel herzzerreißender und aufschlußreicher verlaufen.
Der Mann gefiel ihm, eben weil er so etwas Zurückhaltendes, in sich Gekehrtes an sich hatte.
Vor einem Laden traf er P’tit Louis, der ein Paar Gummistiefel in der Hand hatte.
»Wohin gehst du?«
»Sie verkaufen. Wollen Sie sie mir nicht abkaufen? Die besten, die es in Kanada gibt! Wetten, daß Sie solche in Frankreich nicht finden? Zweihundert Francs …«
P’tit Louis war doch ein bißchen nervös und wartete nur darauf, seinen Weg fortsetzen zu dürfen.
»Bist du schon einmal auf den Gedanken gekommen, daß Kapitän Fallut verrückt war?«
»Wissen Sie, da unten im Maschinenraum kriegt man nicht viel zu sehen …«
»Aber es wird geredet! Also?«
»Es sind da anscheinend komische Geschichten passiert.«
»Was?«
»Alles! Nichts! Es ist schwer zu erklären. Und wenn man dann erst wieder an Land ist …«
Er hatte immer noch die Stiefel in der Hand, und der Besitzer des Ladens für Seemannsartikel, der ihn erspäht hatte, wartete auf seiner Schwelle auf ihn.
»Brauchen Sie mich noch?«
»Wann genau hat das begonnen?«
»Na sofort! Ein Schiff ist entweder gesund oder es ist krank … Nun, die ›Océan‹ war krank.«
»Manövrierfehler?«
»Das und überhaupt! Was soll ich Ihnen erzählen? Dinge, die keinen Sinn ergeben, aber trotzdem existieren. Der Beweis ist, daß man das Gefühl hatte, nicht mehr zurückzukehren … Übrigens, stimmt es, daß man mich wegen dieser Brieftaschensache nicht mehr belästigen wird?«
»Wir werden sehen.«
Der Hafen war fast leer. Außer den Fischkuttern, die vor der Küste auf Fischfang gingen, waren im Sommer alle Schiffe in Neufundland. Nur die dunkle Silhouette der »Océan« zeichnete sich im Hafenbecken ab, und ein starker Kabeljaugeruch füllte die Luft.
In der Nähe des Waggons stand ein Mann, der Ledergamaschen und eine mit Seidenlitzen verzierte Mütze trug.
»Ist das der Reeder?« fragte Maigret einen Zöllner, der vorbeikam.
»Ja. Der Direktor der Französischen Kabeljau-Gesellschaft.«
Der Kommissar ging hin und stellte sich vor. Der andere sah ihn mißtrauisch an und überwachte weiter das Entladen des Schiffs.
»Wie denken Sie über die Ermordung Ihres Kapitäns?«
»Wie ich darüber denke? Ich denke an die achthundert Tonnen verdorbenen Kabeljau! Und daran, daß, wenn es so weitergeht, das Schiff kein zweites Mal wird ausfahren können. Und die Polizei wird die Dinge auch nicht in Ordnung bringen und ebensowenig für den Verlust aufkommen!«
»Sie hatten volles Vertrauen zu Fallut, nicht wahr?«
»Ja, und?«
»Sie glauben, daß der Funker …«
»Ob es der Funker war oder nicht, das Jahr ist futsch! Und von
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