Maigret bei den Flamen
sie, glaube ich, in nächster Zeit unternehmen will …«
Marguerite hatte plötzlich zu spielen aufgehört.
»Ist das wahr, Anna?«
»Oh! Nicht sofort …«
Und Madame Peeters sah alle ein wenig beunruhigt an, während sie weiterstrickte.
»Ich habe Ihr Glas gefüllt, Herr Kommissar. Ihren Geschmack kenne ich ja inzwischen …«
Machère beobachtete mit sorgenvoll gerunzelter Stirn seinen Kollegen und versuchte zu erraten, was geschehen war.
Joseph hingegen saß mit hochrotem Kopf da, denn er hatte mehrere Gläser Genever hintereinander getrunken. Seine Augen leuchteten und seine Hände waren fahrig.
»Wollen Sie mir einen Gefallen tun, Mademoiselle Marguerite? Spielen Sie mir noch ein letztes Mal Solveigs Lied … «
Und zu Joseph gewandt:
»Warum blättern Sie ihr nicht die Seiten um?«
Das war irgendwie pervers, wie wenn man mit der Zungenspitze an einen kranken Zahn stößt, um den Schmerz auszulösen.
Von seinem Platz am Kamin aus, den Ellenbogen auf den Sims gestützt und das Glas Schiedam in der Hand, beherrschte Maigret den ganzen Salon: Madame Peeters, die sich über den Tisch beugte und deren Haarkranz im Schein der Lampe aufleuchtete, van de Weert, der seine kurzen Beine ausgestreckt hatte und seine Zigarre rauchte, und Anna, die aufrecht an der Wand lehnte.
Und am Klavier sang und spielte Marguerite, während Joseph ihr die Noten umblätterte …
Oben auf dem Klavier lag eine gestickte Decke, auf der zahlreiche Fotografien standen: Joseph, Maria und Anna als Kinder, in allen Altersstufen …
Gott helfe dir, wenn du
die Sonne noch siehst …
Aber es war vor allem Annas Reaktion, die der Kommissar studierte. Er gab sich noch nicht geschlagen. Er hof f te, irgend etwas würde geschehen, ohne genau zu wissen, was. Jedenfalls eine echte Gemütsbewegung! Vie l leicht würden sich ihre Lippen zusammenkrampfen? Vielleicht Tränen? Oder würde sie gar plötzlich aus dem Zimmer stürzen?
Die erste Strophe endete, und nichts dergleichen geschah. Machère flüsterte dem Kommissar ins Ohr:
»Bleiben wir noch lange?«
»Nur ein paar Minuten …«
Während sie diese wenigen Worte wechselten, beobachtete Anna sie über den Tisch hinweg, wie um sich zu vergewissern, daß sich keine Gefahr für sie anbahnte.
so treffen wir uns da …
Während der letzte Akkord noch nachklang, murmelte Madame Peeters, die ihr weißes Haupt noch immer über ihre Handarbeit gebeugt hielt:
»Ich habe noch nie jemandem etwas Schlechtes gewünscht, aber ich wiederhole, daß Gott weiß, was er tut! Wäre es nicht ein Jammer gewesen, wenn diese beiden Kinder …«
Sie sprach nicht zu Ende, so bewegt war sie. Mit dem Strumpf, den sie gerade strickte, wischte sie sich eine Träne von der Wange.
Und Anna blieb unerschütterlich, den Blick auf den Kommissar geheftet, während Machère ungeduldig wurde.
»Gehen wir! Sie entschuldigen mich, wenn ich Sie so unvermittelt verlasse, aber mein Zug geht um sieben Uhr und …«
Alle erhoben sich. Joseph wußte nicht, wohin er blicken sollte. Machère stotterte unverständlich vor sich hin, bis er endlich die Worte gefunden hatte, die er suchte, oder z u mindest etwas Ähnliches.
»Es tut mir aufrichtig leid, Sie verdächtigt zu haben. Aber Sie werden zugeben müssen, daß die Umstände … Und wenn dieser Schiffer nicht die Flucht ergriffen hä t te …«
»Begleitest du die Herren hinaus , Anna?«
»Ja, Mutter.«
So gingen sie nur zu dritt durch den Laden. Die Tür war abgeschlossen, weil es Sonntag war. Nur das schwache Licht einer Nachtlampe spiegelte sich in den Ku p ferschalen der Waage.
Machère drückte der jungen Frau beflissen die Hand.
»Ich bitte noch einmal um Verzeihung …«
Maigret und Anna standen sich noch einige Sekunden Auge in Auge gegenüber, und Anna stammelte schließlich:
»Sie können beruhigt sein. Ich werde nicht hierbleiben …«
In der Dunkelheit des Kais sprach Machère ohne Unterbrechung, aber Maigret hörte ihm nur mit halbem Ohr zu.
»… da der Täter nun ermittelt ist, fahre ich morgen nach Nancy zurück …«
»Was hatte sie damit sagen wollen?« überlegte der Kommissar. Ich werde nicht hierbleiben … Würde sie wirklich den Mut aufbringen …?
Er betrachtete die Maas, die in Abständen von fünfzig Metern die von den Wellen verzerrten Reflexe der Gasl a ternen zurückwarf. Ein helleres Licht schien vom and e ren Ufer herüber , vom Hof der Fabrik, in der auch in dieser Nacht der alte Piedbœuf die mitgebrachten Ka r
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