Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
los!«
»Sie haben ihn ja davonlaufen sehen, nicht wahr? Erst ist er einfach losgerannt. Er muß eine Heidenangst davor gehabt haben, wieder gefaßt zu werden. Beruhigt hat er sich erst beim Löwen von Belfort, den er ganz verblüfft angestarrt hat …«
»Wußte er, daß er beschattet wurde?«
»Bestimmt nicht. Er hat sich kein einziges Mal umgedreht.«
»Und dann?«
»Ich glaube, nur ein Blinder oder jemand, der sich in Paris überhaupt nicht auskennt, hätte sich so verhalten … Er bog plötzlich in die Straße ein, die durch den Friedhof Montparnasse führt. Ich hab vergessen, wie sie heißt. Keine Menschenseele weit und breit. Es war unheimlich. Wahrscheinlich wußte er nicht, wo er war, denn als er die Gräber hinter dem Gitter sah, rannte er von neuem los.«
»Weiter!«
Maigret sprach mit vollem Mund. Sein Gesicht hatte sich aufgehellt.
»Wir landeten am Montparnasse. Die großen Cafés waren geschlossen. Es gab aber noch offene Nachtlokale. Ich hab gesehen, wie er vor einem Dancing stehenblieb, aus dem Jazzmusik tönte. Eine kleine Blumenverkäuferin ging mit ihrem Korb auf ihn zu, und da ist er weggelaufen …«
»In welche Richtung?«
»In keine bestimmte. Er ist erst den Boulevard Raspail entlanggelaufen, dann durch eine Seitenstraße wieder zurückgekommen, und dann stand er wieder vor dem Bahnhof Montparnasse.«
»Wie sah er aus?«
»Leer, ausdruckslos. Wie vor dem Untersuchungsrichter, wie vor dem Schwurgericht … Totenbleich … Und ein verschwommener, verängstigter Blick … Ich kann es Ihnen nicht beschreiben. Eine halbe Stunde später waren wir in den Markthallen.«
»Und niemand hatte ihn angesprochen?«
»Kein Mensch.«
»Und er hatte nicht irgendwo einen Zettel in den Briefkasten geworfen?«
»Nein. Ich schwör es Ihnen, Chef! Janvier folgte ihm auf der einen, ich auf der anderen Straßenseite. Keine einzige Bewegung ist uns entgangen. Einmal blieb er einen Augenblick vor einer Würstchenbude stehen. Er zögerte. Dann ging er weiter, vielleicht weil er einen Polizisten in Uniform gesehen hatte …«
»Du hattest also nicht das Gefühl, daß er eine bestimmte Adresse suchte?«
»Nichts dergleichen! Man hätte ihn eher für einen Betrunkenen halten können, der sich Gott weiß wohin treiben läßt … Wir stießen wieder auf die Seine, an der Place de la Concorde. Und dann hat er sich wohl in den Kopf gesetzt, dem Fluß zu folgen … Zwei- oder dreimal hat er sich hingesetzt …«
»Wohin?«
»Einmal auf die Steinbrüstung. Ein andermal auf eine Bank. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, dort hat er geweint. Jedenfalls legte er den Kopf in die Hände.«
»Sonst jemand auf der Bank?«
»Niemand. Und weiter ging’s, immer zu Fuß. Stellen Sie sich die Strecke bis Les Moulineaux vor! Ab und zu blieb er stehen und starrte auf das Wasser. Die ersten Schleppkähne kamen gefahren. Dann füllten sich die Straßen mit Fabrikarbeitern … Er ging immer weiter wie einer, der keine Ahnung hat, was er tun soll …«
»Ist das alles?«
»So ziemlich. Warten Sie … Auf dem Pont Mirabeau hat er ganz mechanisch die Hände in die Taschen gesteckt und etwas rausgezogen.«
»Zehn-Franc-Scheine …«
»So kam es uns jedenfalls vor, Janvier und mir … Danach begann er Ausschau zu halten. Nach einem Bistro natürlich! Aber am rechten Ufer war noch nichts offen. Er überquerte den Fluß. In einer kleinen Bar voll Lastwagenfahrer hat er Kaffee und ein Glas Rum getrunken …«
»Im ›Citanguette‹?«
»Noch nicht! Janvier und ich hatten weiche Knie. Wir zwei durften uns ja kein Gläschen erlauben, um uns ein bißchen aufzuwärmen. Er marschierte wieder los. Er lief kreuz und quer. Janvier hat sich alle Straßennamen notiert und wird Ihnen ausführlich berichten. Schließlich sind wir wieder in die Quais eingebogen, neben einer großen Fabrik … Eine gottverlassene Gegend … Ein paar Sträucher wachsen dort und Gras, wie draußen auf dem Land, zwischen zwei Schrotthaufen. Neben einem Hebekran liegen Flußkähne vor Anker. Etwa zwanzig, schätze ich …
›La Citanguette‹ ist ein Wirtshaus, das man dort nicht erwarten würde. Ein kleines Bistro, wo es was zu essen gibt. Rechts davon befindet sich ein Schuppen mit einem elektrischen Klavier, und auf einem Schild steht: ›Samstag und Sonntag Tanz‹.
Der Mann hat wieder Kaffee und Rum getrunken. Man hat ihm Würstchen gebracht, aber er hat lang drauf warten müssen. Dann hat er mit dem Wirt gesprochen, und eine Viertelstunde
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