Maigret und das Verbrechen in Holland
Religionsgemeinschaft an, die viel strenger ist, viel – wie sagen Sie – konservatorischer?«
»Konservativer.«
»Ja. Sie ist Vorsitzende aller Wohltätigkeitsvereine …«
»Sie mögen sie nicht?«
»Doch, aber das ist nicht dasselbe. Sie ist die Tochter von einem Gymnasialdirektor, verstehen Sie? Mein Vater ist nur ein Bauer. Doch sie ist sehr lieb und nett.«
»Was ist passiert?«
»Hier werden oft Vorträge gehalten. Es ist eine Klei n stadt: fünftausend Einwohner. Doch man will sich we i terbilden … Letzten Donnerstag war Professor Duclos aus Nancy da … Kennen Sie ihn?«
Sie war sehr erstaunt, daß Maigret den Professor nicht kannte, den sie für eine Größe der französischen Wi s senschaft hielt.
»Ein berühmter Rechtsanwalt, Spezialist für krimin a listische und – wie heißt das? – psychologische Probl e me. Er sprach über die Verantwortlichkeit der Verbr e cher … Ist das richtig? … Sie müssen mir sagen, wenn ich Fehler mache …
Madame Popinga ist Vorsitzende der Gesellschaft. Die Redner werden immer zu ihr nach Hause eingeladen. Um zehn Uhr kamen alle noch im engeren Kreis z u sammen: Professor Jean Duclos, Conrad Popinga, seine Frau, dann Wienands, seine Frau und seine Kinder … Und ich.
Die Popingas wohnen einen Kilometer von hier, auch am Amsteldiep. Das Amsteldiep ist der Kanal, den Sie sehen … Wir haben Wein getrunken und Kuchen gege s sen. Conrad hat das Radio angestellt. Any war auch da. Sie hatte ich vergessen, sie ist die Schwester von Mad a me Popinga und Rechtsanwältin. Conrad wollte tanzen. Wir rollten den Teppich auf … Die Wienands sind z u erst gegangen, wegen der Kinder. Das kleinste weinte. Sie wohnen im Haus neben den Popingas … Um Mi t ternacht war Any müde. Ich hatte mein Fahrrad dabei. Conrad hat mich nach Hause gebracht. Er ist mit se i nem Fahrrad gefahren.
Ich bin nach Hause gekommen. Mein Vater hatte auf mich gewartet.
Wir haben erst am nächsten Morgen von dem Drama erfahren. Ganz Delfzijl war in Aufregung …
Ich glaube nicht, daß es meine Schuld war … Als Conrad nach Hause kam, wollte er sein Fahrrad in den Schuppen hinter dem Haus stellen.
Jemand schoß mit einem Revolver … Er fiel zu B o den … Er starb nach einer halben Stunde.
Armer Conrad! … Mit seinem offenen Mund! …«
Sie wischte eine Träne ab, die sich auf ihrer glatten und rosigen Wange, die aussah wie ein reifer Apfel, e t was merkwürdig ausnahm.
»Ist das alles?«
»Ja. Die Polizei aus Groningen kam, um der Landp o lizei zu helfen. Sie sagte, man habe vom Haus aus g e schossen. Anscheinend hat man gleich danach den Pr o fessor gesehen, wie er mit dem Revolver in der Hand die Treppe herunterkam. Es war der Revolver, mit dem g e schossen worden war …«
»Professor Jean Duclos?«
»Ja. Deshalb hat man ihn nicht abreisen lassen.«
»Kurz, zu diesem Zeitpunkt waren noch Madame P o pinga, ihre Schwester Any und Professor Duclos im Haus?«
»Ja!«
»Und am Abend waren außerdem die Wienands, Sie und Conrad da.«
»Und auch Cor! Ich vergaß ihn.«
»Cor?«
»Das ist die Abkürzung für Cornelius. Ein Kadett der Marineschule, der Privatunterricht bekam.«
»Wann ist er gegangen?«
»Zusammen mit mir und Conrad. Aber er fuhr nach links mit seinem Rad, zum Schulschiff zurück, das auf dem Emskanal liegt. – Nehmen Sie Zucker?«
Der Tee dampfte in den Tassen. Ein Auto hatte eben an der Treppe gehalten. Etwas später trat ein Mann ein, groß, breitschultrig, leicht ergraut, mit einem ernsten Gesicht und einer Schwerfälligkeit, die seine Ruhe noch hervorhob.
Es war der Bauer Liewens, der darauf wartete, daß seine Tochter ihm den Besucher vorstellte.
Er drückte Maigret kräftig die Hand, sagte aber nichts.
»Mein Vater kann kein Französisch.«
Sie goß ihm eine Tasse Tee ein, die er im Stehen in kleinen Schlucken trank. Dann berichtete sie ihm auf Holländisch von der Geburt des Kälbchens.
Sie erzählte ihm wohl von der Rolle, die der Kommi s sar dabei gespielt hatte, denn er schaute diesen erstaunt und etwas ironisch an, und ging dann, nachdem er sich etwas förmlich verabschiedet hatte, zum Stall hinüber.
»Hat man Professor Duclos ins Gefängnis gebracht?« fragte Maigret.
»Nein! Er wohnt im Hotel Van Hasselt zusammen mit einem Polizisten.«
»Conrad?«
»Seine Leiche wurde nach Groningen gebracht. Ung e fähr dreißig Kilometer von hier entfernt. Eine große Stadt mit hunderttausend Einwohnern und mit einer Universität, an der Jean Duclos
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