Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Tags darauf hat mir ein Handelsreisender, der alle Monate herkommt und an dem Abend im Lokal war, berichtet, er habe den Betrunkenen und Monsieur Belloir gegen ein Uhr morgens zusammen gesehen … Er hat sogar beobachtet, wie sie gemeinsam Monsieur Belloirs Haus betreten haben.«
»Das ist der große Blonde dort?«
»Ja; er hat ein schönes Haus in der Rue de Vesle, fünf Minuten von hier. Er ist stellvertretender Direktor der Kreditbank.«
»Ist der Handelsreisende hier?«
»Nein. Er macht seine übliche Runde durch den Osten des Landes; vor Mitte November wird er nicht zurücksein. Ich hab ihm gesagt, daß er sich geirrt haben muß, aber er war nicht davon abzubringen. Ich war drauf und dran, es Monsieur Belloir gegenüber zu erwähnen, so zum Spaß, aber dann hab ich mich doch nicht getraut. Er hätte es als Kränkung auffassen können, nicht? … Ich möchte Sie auch bitten, von dem, was ich Ihnen gesagt habe, kein Aufhebens zu machen oder zumindest nicht durchblicken zu lassen, daß es von mir kommt. In unserem Beruf …«
Der Billardspieler hatte eine Achtundvierzig-Punkte-Serie beendet. Er warf einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, daß seine Leistung auch bemerkt worden sei, sah Maigret im Gespräch mit dem Wirt und runzelte unmerklich die Stirn, während er die Spitze seiner Queue mit grüner Kreide einrieb.
Denn der Wirt, wie das fast immer der Fall ist, wenn einer Unbefangenheit vorzutäuschen sucht, hatte die ängstlich besorgte Miene eines Verschwörers.
»Sie sind dran, Monsieur Emile!« rief Belloir ihm zu.
4
Der unerwartete Besucher
Es war ein neues Haus, das durch die sorgfältige Wahl von Stil und Baumaterial einen Eindruck von Klarheit, Bequemlichkeit, unaufdringlicher Modernität und solidem Wohlstand erweckte. Roter Backstein, in den Fugen frisch verstrichen, Quadersteine und eine polierte Eichentür mit Kupferbeschlägen.
Es war erst halb neun, als Maigret dort mit dem Hintergedanken auftauchte, so in aller Frühe einen Einblick in das häusliche Leben der Familie Belloir zu erlangen.
Die Fassade jedenfalls stand im Einklang mit der äußeren Erscheinung des stellvertretenden Bankdirektors, ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als eine Hausangestellte in blitzsauberer Schürze die Tür öffnete. Der Flur war geräumig und endete in einer fazettierten Glastür; die Wände waren mit Kunstmarmor verkleidet, und der Fußboden aus Granit in zwei verschiedenen Farbtönen wies ein geometrisches Muster auf.
Zur linken Hand zweiteilige Flügeltüren aus hellem Eichenholz, die ins Wohn- und Eßzimmer führten.
An der Garderobe hing unter anderem der Mantel eines vier- oder fünfjährigen Kindes, und aus einem bauchigen Schirmständer ragte ein Spazierstock mit Goldknauf.
Dem Kommissar blieb nur eben Zeit zu einem kurzen Blick, um die ganze Atmosphäre dieser auf soliden Grundlagen ruhenden Existenz auf sich wirken zu lassen, denn kaum hatte er den Namen Monsieur Belloirs ausgesprochen, als das Dienstmädchen auch schon erwiderte:
»Würden Sie mir bitte folgen? Die Herren erwarten Sie.«
Sie ging auf die Glastür zu. Durch den Spalt einer anderen, angelehnten Tür blickte der Kommissar in das behagliche, saubere Eßzimmer, wo eine junge Frau im Morgenrock mit einem vierjährigen Jungen an einem hübsch gedeckten Tisch frühstückte.
Hinter der Glastür lag eine Treppe aus hellem Holz, deren Stufen ein mit rotem Rankenmuster verzierter, von Kupferstangen gehaltener Läufer bedeckte.
Den Treppenabsatz schmückte eine stattliche Zierpflanze. Schon drückte das Mädchen die Klinke einer weiteren Tür herab; man blickte in ein Arbeitszimmer, wo drei Männer gleichzeitig den Kopf wandten.
Es wirkte wie ein Schock. Eine drückende Beklommenheit, ja Angst ließ die Blicke der Männer sich versteinern; und nur das Dienstmädchen merkte nichts davon, sagte gänzlich unbefangen:
»Bitte, wenn Sie ablegen möchten …«
Einer der drei Anwesenden war Belloir, untadelig, mit sorgfältig gebürstetem blondem Haar. Neben ihm ein Mann von weniger gepflegtem Äußeren, den Maigret nicht kannte. Der Dritte jedoch war kein anderer als Joseph van Damme, der Bremer Geschäftsmann.
Zwei Stimmen erhoben sich gleichzeitig; Belloir machte mit gerunzelter Stirn einen Schritt vorwärts und sagte in einem etwas trockenen, eine Spur herablassenden, der Umgebung angemessenen Tonfall:
»Monsieur …?«
Im gleichen Moment aber rief van Damme, um seine gewohnte Spontaneität ringend,
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