Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Tausendfrancsscheine sind einem gewissen Louis Jeunet bei der Banque Générale de Belgique ausgezahlt worden gegen einen mit dem Namen Maurice Belloir gezeichneten Scheck.
Maigret stieß die Tür der Telefonzelle auf und erblickte van Damme, der – sich unbeobachtet glaubend – seine Gesichtsmuskeln hatte erschlaffen lassen. Mit einem Schlag wirkte er weniger offen, weniger rosig, weniger vor Gesundheit und Optimismus strotzend.
Er mußte den Blick auf sich gefühlt haben, denn zusammenschreckend fiel er automatisch in die Rolle des munteren Geschäftsmannes zurück.
»Alles klar?« rief er Maigret entgegen. »Sie kommen mit? … Herr Wirt, würden Sie uns einen Wagen besorgen, der uns hier abholt und nach Paris bringt? Einen bequemen Wagen natürlich! Und während wir warten, lassen Sie unsere Gläser besser noch einmal nachfüllen.«
Er kaute an seiner Zigarre, und für den Bruchteil einer Sekunde, indessen seine Augen den Marmor des Tisches fixierten, wurde sein Blick trübe, fielen seine Mundwinkel herab, so als habe der Tabak einen bitteren Geschmack an seinem Gaumen hinterlassen.
»Wenn man im Ausland lebt, lernt man die französischen Weine und Spirituosen erst so recht schätzen!«
Die Worte klangen hohl. Man ahnte den Abgrund zwischen ihnen und den Gedanken, die sich hinter der Stirn des Mannes abspielten.
Draußen auf der Straße ging Jef Lombard vorüber. Die Tüllgardinen ließen die Umrisse seiner Gestalt verschwimmen. Er war allein, ging mit weitausholenden, bedächtigen und abgemessenen Schritten einher, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen.
Er trug eine Reisetasche, die Maigret an die beiden gelben Koffer erinnerte, nur daß ihre Qualität um einiges besser war; sie hatte zwei Riemen und ein Futteral für die Visitenkarte.
Seine Absätze wiesen an einer Seite die ersten Anzeichen von Abnutzung auf, und seine Kleidung wirkte ungepflegt, wie Jef Lombard so auf den Bahnhof zusteuertet Van Dammes Finger zierte ein schwerer Siegelring aus Platin. Er saß da, von einer aromatischen Tabakwolke umgeben, die der betäubende Dunst des Armagnacs zusätzlich würzte. Im Hintergrund vernahm man das Murmeln des Wirtes, der mit der Garage telefonierte.
Belloir mußte jetzt gerade über die Schwelle seines modernen Hauses treten, den Weg zum Marmorportal der Bank einschlagen, indessen seine Frau das Söhnchen in den Alleen spazierenführte.
Unterwegs würde jedermann ihn grüßen, denn sein Schwiegervater war der bedeutendste Unternehmer der Region, seine Schwäger waren in der Industrie, ihm selbst stand eine glänzende Laufbahn bevor.
Janin dagegen, mit seinem kleinen schwarzen Kinnbart und der Künstlerschleife, saß im Zug nach Paris – in einem Abteil dritter Klasse, hätte Maigret wetten mögen.
Und, auf der untersten Sprosse der Leiter, der blasse Reisende von Neuschanz und Bremen, der Mann der Kräuterhändlerin aus der Rue Picpus, der Fraser der Rue de la Roquette, der sich in aller Einsamkeit dem Alkohol hingab, der seine Frau durchs Schaufenster anstarrte und sich selbst Banknoten wie alte Zeitungen verpackt schickte, der Wurstbrötchen in Bahnhofsgaststätten kaufte und sich eine Kugel durch den Kopf jagte, weil man ihm einen getragenen Anzug entwendet hatte, der nicht einmal seiner war.
»Sind Sie so weit, Herr Kommissar?«
Maigret schrak zusammen, und der Blick, den er auf seinem Begleiter ruhen ließ, war derart umwölkt, daß dieser verlegen auflachte – ein gezwungenes Lachen! – und stammelte:
»Haben Sie geträumt? Jedenfalls waren Sie mit den Gedanken ganz woanders … Ich wette, es ist immer noch dieser Selbstmörder, der Ihnen Kopfzerbrechen macht!«
Es stimmte nicht ganz, denn in dem Moment, als sein Gedankengang unterbrochen wurde, war Maigret dabei gewesen, eine seltsame Rechnung aufzustellen, und zwar die Addition der in diese Geschichte verwickelten Kinder: eins in der Rue Picpus, zwischen Mutter und Großmutter in einem Lädchen, wo es nach Pfefferminz und Gummi roch; eins in Reims, das gerade lernte, den Ellbogen auf Kinnhöhe zu halten, wenn es den Bogen über die Saiten einer Geige führte; zwei bei Jef Lombard in Lüttich, wo ein drittes erwartet wurde …
»Ein Glas Armagnac noch, ja?«
»Nein danke. Das genügt.«
»Also dann, schwingen wir uns in den Sattel oder eher in die Sitze!«
Nur Joseph van Damme lachte, so wie er die ganze Zeit das Bedürfnis zu lachen verspürt hatte. Man mußte an einen kleinen Jungen denken, der sich fürchtet, in den
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